Eine Zuschrift: Sehr geehrte Frau Pfeiffer, durch Zufall stieß ich auf Ihren Artikel im Internet. Mein Sohn wechselte mehrfach die Schule durch Umzug in verschiedene Bundesländer; mal wurde die Vereinfachte Ausgangsschrift (VA) benutzt, mal die Lateinische Ausgangsschrift (LA). Durch die VA wurde die Schrift meines Sohnes unglaublich schnell. Die Buchstaben s und t sind unleserlich, ihre Formen sind besonders entartet, weil sie häufig verwendet werden. Weil die Anfangsgroßbuchstaben nicht mit den Kleinbuchstaben zusammenhängen müssen, stehen Buchstaben und Wortfragmente allein auf dem Papier. Dadurch gehen Übersichtlichkeit und Zusammenhang verloren; manche Kleinbuchstaben geraten im Verhältnis größer als die ‚vereinsamten' Großbuchstaben. So etwas kann niemand mehr lesen, auch mein Sohn nicht.
Erst jetzt verstehe ich, dass Kinder gequält werden, wenn andere sie ständig auf ihre schlechte Handschrift ansprechen, sie werfen dann auch mal das Handtuch und flüchten sich in die Welt des Nichtschreibenmüssens: Wissenschaft, Technik, Computer-Technologie und so weiter. Alles mit großem Interesse, aber bitte bloß nichts schreiben. Mein Sohn kann die Leier über seine schlechte Handschrift nicht mehr vertragen. Auf der Flucht vor Schriftlichem lernt er seitenlange Texte auswendig. Niemand fordert ihn dazu auf, er tut es einfach. Er flüchtet vor dem Schreiben. Die VA trug in unserem Falle dazu bei, meinem Sohn das Schreiben zu vermiesen. Kritik an der schlechten Handschrift ist wohl unangebracht, soviel weiß ich nun, nachdem ich Ihren Beitrag gelesen habe. Ich habe mir vorgenommen, seine hässliche Schrift nicht mehr zu kritisieren. Kann er denn dafür, wenn so etwas in der Schule gelehrt wird? Nein! Im Internet las ich die Klage einer Studentin, welche sehr unter ihrer mangelhaften Handschrift leidet, weil sie in den Vorlesungen nicht in der Lage ist, mitzuschreiben: entweder sie schriebe schnell, dann könne sie die Mitschrift später nicht mehr lesen; oder sie male saubere Buchstaben aufs Papier, wobei sie durch die Konzentration auf das Schreiben den Inhalt der Vorlesung nicht mitbekäme. Zu angemessen schnellem Schreiben bei gleichzeitig leserlichen Buchstabenformen war sie nicht in der Lage, wie sie offen bekannte. Ich denke, diese junge Frau ist kein Einzelfall. Sehr geehrte Frau Pfeiffer, meine Frage ist nun die: Wie kann man ein »handschriftgeschädigtes« Schulkind dazu bringen, sich eine leserliche und feine Handschrift anzueignen, ohne es zu quälen? Besteht die einzige Rettung darin, ein solches Kind am PC schreiben zu lassen? Was soll man tun zur Verbesserung einer VA-geschädigten Handschrift? Vielen Dank also für Ihren Artikel, der wohl schon vor einigen Jahren verfasst wurde, aber wie ich finde, hochaktuell ist. Mit freundlichen Grüßen Dr. Maria B.
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Antwort: Sehr geehrte Frau Dr. B., haben Sie zunächst vielen Dank, daß Sie sich mit Ihrem Problem vertrauensvoll an mich wenden. Zunächst etwas Grundsätzliches. Die Reform der Schrift war eine politisch gewollte Maßnahme Ihre Beschreibung zeigt, welch verheerende Auswirkungen unbedacht durchgepeitschte Retortenlösungen in der Pädagogik nach sich ziehen können. Damit meine ich die in Mode gekommenen Reformbemühungen. Nicht selten gelten sie in Bereichen, die bis zum Zeitpunkt des willkürlichen politischen Eingriffs traditionell gut funktioniert haben. Wir hatten mit der Lateinischen Ausgangsschrift (LA) ein Schriftmodell, nach dessen Vorbild die meisten Schulabgänger eine gefällige, gut lesbare und schnelle Handschrift ihr eigen nannten. Ohne sachliche Notwendigkeit ist diese funktionstüchtige Schrift durch eine künstlich geschaffene Retortenschrift ersetzt worden: die Vereinfachte Ausgangsschrift (VA). Dieser Schritt wurde von sogenannten Experten beschlossen und durch Einflußnahme auf die Schulbehörden politisch durchgesetzt. Den skeptischen Lehrern und Eltern wurde die Maßnahme mit (haltlosen, weil frei erfundenen) Versprechungen schmackhaft gemacht. So hieß es unter anderen Verstiegenheiten gar, die Rechtschreibung der Kinder werde sich bessern! Die angedichteten Vorteile der VA entpuppten sich jedoch schon rasch als handfeste Nachteile, lobende Gutachten wurden von den Reformern und Nutznießern der Reform selbst erstellt. Über deren Aussagekraft muß hier kein zusätzliches Wort verloren werden. Unlust beim Schreiben und mangelhafte Rechtschreibung Obschon die VA bis heute auf wenig Gegenliebe bei ihren Benutzern stößt, wird sie weiterhin unterrichtet. Es findet sich keine verantwortlich handelnde und mit entsprechenden Machtbefugnissen ausgestattete Person, die dem unerfreulichen Experiment ein Ende bereiten könnte. Der Hauptschaden, den die VA anrichtet, ist neben dem unästhetischen Schriftbild die Erzeugung von gefühlsbetonter Abwehr. Kinder tun nicht gern, was sie nicht gut können. Die schriftfeindliche Einstellung Ihres überdurchschnittlich begabten Sohnes belegt diesen Mißstand deutlich. Mit der Schreibverweigerung einher geht die mangelhafte Ausbildung einer sicheren Orthographie. Durch die verstümmelten Buchstabenformen wird der Aufbau einer guten Rechtschreibkompetenz zusätzlich erschwert. Unsere abendländische Zivilisation basiert auf der Schrift. Im Erwerbsleben stößt nach wie vor auf Probleme, wer weder zügig noch richtig schreiben kann. Übrigens ist auch die sogenannte Rechtschreibreform ein fataler Eingriff in das historisch gewachsenes Kulturgut Schrift gewesen. Der Schaden, der dadurch angerichtet wurde, ist ungleich größer als die Einführung der VA in unseren Schulen. Weil niemand die Retortenrechtschreibung richtig anwenden kann, werden unsere Kinder heute überall mit unterschiedlichen Schreibweisen konfrontiert. Auf diese Weise können sie sich keine konsistente Rechtschreibung aneignen. Die damit einhergehende Verunsicherung trägt ebenfalls dazu bei, die Freude am Schreiben im Keime zu ersticken. Aber das nur am Rande. Nun zu Ihrer konkreten Frage, was zu tun sei.
„Besteht die einzige Rettung darin, ein solches Kind am PC schreiben zu lassen?" Meist wollen wir ein Schriftstück deshalb in Form bringen, weil es für den Leser ansprechend gestaltet sein soll; sauber getippte Briefe gehören heute zum Standard, wenn untereinander Schriftstücke ausgetauscht werden. Die Benutzung des PC im privaten und öffentlichen Schriftverkehr zwischen Erwachsenen ist deshalb einziges Mittel der Wahl. Davon aber soll hier nicht die Rede sein: uns geht es um Kinder, und wir sprechen von den pädagogischen Bemühungen, ihnen das Schreiben erst beibringen zu wollen. Und hier muß diese Frage, PC als einzige Lösung, strikt verneint werden! Das Schreiben am PC verhilft zwar vordergründig zu raschen Erfolgen — doch sind diese rein formaler Natur. Inhaltlich hat das Kind wenig dazugelernt. Es bedient bloß eine Maschine. Für jeden Buchstaben des Alphabets führen die Finger ein und dieselbe Bewegung aus: sie tippen. Wie anders ist das beim raumgreifenden, schwingenden Schreiben mit der Hand! Die motorischen Schreibbewegungen in ihrer schier unbegrenzten Vielfalt prägen sich im Gehirn des lernenden Kindes ein. Hieraus resultiert ein positiver Rückkoppelungseffekt auf Konzentration, Merkvermögen und Intelligenz — das ist empirisch erwiesen. Schreiben am PC sollte deshalb einzig dem pädagogischen Zweck dienen, einen zuvor angefertigten, handschriftlich zu Papier gebrachten Text in sauberer Maschinendruckschrift zu fixieren. Bei Zeitmangel lasse man den PC fort, nicht aber das Schreiben per Hand! Wie Sie selbst treffend anmerken, ist Kritik an der schlechten Handschrift des Kindes nicht in jedem Fall angebracht. Ausgeprägte Krakelschriften sind weniger ein Ausdruck von Unwilligkeit oder mangelnder Einsicht als vielmehr das Resultat einer fehlgeleiteten Unterrichtsmethode mit ungeeigneten Buchstabenformen. Die VA wird überraschenderweise von den meisten Personen als häßlich empfunden, selbst von jenen, die sie in der Schule mehr oder minder freiwillig benutzen. Täuschen wir uns nicht über unsere Kinder! Genau wie wir spüren sie, was schön ist und was nicht. Von Schönheit ist der Mensch angetan, das Häßliche flieht er. Wundern wir uns, wenn das Kind keine Begeisterung für das Schreiben aufbringen kann? Wer abstoßende Buchstabenformen zu Papier bringen muß, hat keinen Anlaß, auf sein Geschriebenes auch noch stolz zu sein. Aufgabe der Schule ist es, Schüler schreiben zu lehren Eines der fundamentalen Unterrichtsziele in der Grundschule ist es, den Schulkindern eine lesbare und gefällige Schrift zu vermitteln. Schrift erfüllt einen einzigen Zweck, nämlichden, GELESEN zu werden — was sonst auch? Wenn die Handschrift derart verformt ist, daß niemand sie lesen kann, dann gilt dieses Ziel als nicht erreicht. Hier versagt eindeutig die Schule. Sie fragen nun angesichts dieses Dramas, wie Sie als Eltern diesen Mangel zu Hause beheben können. Es gibt darauf nur eine einzige Antwort: Wir müssen den Reset-Knopf drücken und mit dem Kind das Schreiben noch einmal ganz von Beginn an erlernen, so als ob es das erstemal wäre. Müßig zu sagen, daß sich die Lateinische Ausgangsschrift dafür am besten eignet.
Sie befürchten nun, Sie würden das Kind mit diesem Anliegen »quälen«. Ich darf Ihnen sagen, daß es allein von Ihnen abhängt, ob Ihr Sohn bereitwillig mitarbeiten oder sich sträuben wird. Die Stimmung des Erwachsenen, seine Einstellungen und Sichtweisen übertragen sich atmosphärisch auf den Lernenden. Ist der Erwachsene unwillig, ungeduldig oder erbost über das Leistungsdefizit, so wird auch das Kind bockig und widerwillig reagieren — und damit tatsächlich »gequält« sein. Hat jedoch der Erwachsene eine gelassene Haltung, verbreitet er Zuversicht, übt er sich in Geduld, unterstellt er dem Kind keinen bösen Willen, so ist schon der halbe Weg zum Erfolg beschritten. Führen Sie das Kind geduldig, mit fester Hand und nötiger Konsequenz, aber dennoch immer ermutigend über die natürlichen Klippen beim Lernen hinweg! Das Kind wird sich willig der Herausforderung stellen. Eine leichte Aufgabe ist das nicht. Und auch keine, die in wenigen Tagen erledigt ist. Haben Sie Geduld! Nicht nur mit dem Kind, sondern vor allem mit sich selbst! Der zeitsparende Befehl: Schreib schöner! ist Billigpädagogik aus dem Supermarktregal. Damit delegieren wir die ganze Verantwortung auf das Kind, das diese doch gar nicht tragen kann. Es wird mit einer sein Fassungsvermögen übersteigenden Aufgabe alleingelassen. Es wird nicht bewältigen, was es aus den Umständen heraus gar nicht bewältigen kann. Lernen muß einen Sinn haben, dieser Sinn ergibt sich aus dem Erwachsenenvorbild und seiner geduldigen Zuwendung: dem aktiven Unterrichten (und nicht dem bequemen »Mach mal!«). In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, daß der Hauptzweck des schulischen Lernens nicht gute Schulzensuren sind. Diese sind quasi ein Nebenresultat ernsthaften Lernens. In Wahrheit geht es um anderes: Das Kind will etwas Sinnvolles leisten, will nützlich sein, will Erfolg haben und will Stolz empfinden auf seine Leistung. Im vorliegenden Falle heißt das: Ihr Sohn möchte gut schreiben können, wünscht sich eine gute Handschrift. Er möchte es richtig machen, auch wenn er selbst das möglicherweise nicht artikulieren kann. Das muß er auch nicht. Damit habe ich nun alles gesagt, was mir als wichtig erscheint. Ihnen und Ihrem Sohn wünsche ich alles Gute und viel Erfolg! Mit freundlichen Grüßen Karin Pfeiffer |