| Wir hören, was wir schreiben
Kürzlich habe ich ein Buch gelesen, welches mich sehr beeindruckt hat. Der Autor, ein Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde (1), behandelt darin die Rolle des Ohres beim Schreibenlernen. Lesen und Schreiben über die Ohren? Wer den Lesevorgang an sich selbst aufmerksam beobachtet, wird dies bestätigt finden: man »hört« die Wörter. Es kommt deshalb beim Lesenlernen darauf an, jeden Buchstaben dem richtigen Laut zuzuordnen. Später werden Silben und Wörter mit komplexen Lautfolgen verknüpft. Grafische Zeichen gehen mit den akustischen Zeichen eine feste Verbindung ein. Lesefertigkeit stellt sich nicht von heute auf morgen ein. Viel Übung ist nötig, bis das Lesen automatisch abläuft. Noch bis vor zwei Generationen war es üblich, beim Lernen auf Gedichte und Lieder zuzugreifen. Das laute Lesen wurde gepflegt — es ist buchstäblich »der Königsweg zum Verstehen« (Alfred Tomatis). Der rhythmische Klang eröffnet den ganzkörperlichen, gefühlsbetonten Zugang zur Sprache: Schrift ist viel mehr als eine bloße Sammlung gedruckter Zeichen. Der Erstklasslehrer trägt große Verantwortung, denn die Wahl seiner Unterrichtsmethode stellt Weichen. Erste Schreibgewohnheiten bilden sich bei den Kindern und können, falls sie sich als nachteilig erweisen, später nur noch mit Mühe korrigiert werden. Zu Beginn eingeübte Fehler bleiben unter Umständen lebenslang dominierend, dies ist sowohl ein Erfahrungswert wie auch durch die neue Hirnforschung (vgl. Manfred Spitzer) belegt. Während ich diese Zeilen formuliere, erregt eine Studie die Gemüter: Studenten haben massive Probleme bei Rechtschreibung, Grammatik, Syntax und – beim Lesen! Die Ergebnisse sind laut Professor Gerhard Wolf (2) derart „bestürzend", dass man gezögert habe, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Es ist an der Zeit, mit Tabus zu brechen. Ein solches Tabu ist die Anlauttabelle und die populäre Annahme, jedes Kind könne sich damit selbständig Lesen und Schreiben beibringen. Diese Unterrichtspraxis gehört auf den Prüfstand. Gut ist nur das, was sich in der Praxis bewährt. Werkzeuge, die sich als untauglich erweisen, soll man ohne Zögern wegwerfen. Karin Pfeiffer | |