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Wozu Handschrift?

 
01. Februar 2017
Wozu Handschrift?
Kategorie: Schriftkultur

 

Der Zweck der Schrift: gelesen werden

»Da sind wohl Hühner spazierengegangen«, seufzt die Lehrerin. Am häuslichen Schreibtisch beugt sie sich über das Heft eines Schülers, versucht dessen Schrift zu entziffern. In dieser Szenerie offenbart sich die ganze Sinnlosigkeit nachlässig angefertigter Niederschriften. Schrift, die man nicht lesen kann, ist ohne Funktionswert. Schrift ist optische Mitteilung über Raum und Zeit hinaus. Diesem Zweck gehorcht die Notwendigkeit einer Form-Normierung. In der Grundschule werden unsere Kinder in dieses genormte Schriftsystem eingeführt. Lesen und Schreiben sind grundlegende Kulturtechniken, die von jeder Generation neu erlernt werden müssen. Unter Anleitung des Lehrers üben Kinder die gebräuchlichen Buchstabenformen ein. Schreibenlernen verfolgt das Ziel, sich schriftlich mitteilen zu können. Eine Gesellschaft, die darauf verzichtet, ihre Kinder in das bestehende Normsystem einzuführen, wird dies unweigerlich mit der Einbuße des kulturellen Niveaus bezahlen müssen.

Schreiben ist Übung

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde im Gegensatz zu heute noch viel mit der Hand geschrieben. In Büros entstanden Listen per Hand, Versammlungen wurden handschriftlich protokolliert. Privat schrieb man einander Briefe. In der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts verbreiteten sich die modernen Kommunikationsmedien. Telefon und Computer verdrängten mehr und mehr das Schreiben mit der Hand, überflüssig machen sie es indes nicht. Wo aber mangels Schreibanlässen die individuelle Handschrift nicht trainiert wird, verkümmern selbst die einmal vorhandenen Fertigkeiten. Die Feinmotorik der Hand muß ebenso trainiert werden die wie Muskulatur der Beine zum Gehen. Wenn wir darauf verzichten, unseren Kindern aus kurzsichtigen Motiven — etwa aus Gründen der Zeitersparnis — die Schreibkunst zu vermitteln, wird dies auf mittlere Sicht den Verfall des logischen Denkens zur Folge haben. Damit steht mehr als nur die Literalität auf dem Spiel, und das ist keine bloße Untergangsprophetie. Das Elend aller bisher untergegangenen Zivilisationen zeigt sich darin, daß die Menschen die positiven Errungenschaften ihrer Vorfahren jeweils als natürlich gegeben betrachteten und darauf verzichten haben, die Grundlagen der Tradition zu pflegen und aktiv zu erneuern.

Schreibenlernen ist mühsam und kostet Zeit

Man sollte Kindern und Eltern nicht erzählen, daß das Schreiben dank neuer Techniken und moderner Unterrichtsmethoden leichter und schneller erlernt werden könne. Schon gar nicht trägt eine wie immer geartete neue Schrift dazu bei — wie zum Beispiel die »Grundschrift«, eine Druckschrift, die zur Zeit unter verlogenen Argumenten und falschen Versprechungen vom Grundschulverband (einer privaten Interessengemeinschaft mit gutem Draht zur Politik) in die Schulen geschleust wird. Schon die Vereinfachte Ausgangsschrift hat zu einem Verfall der Handschrift geführt, denn das abgehackte Schreiben erzeugt eine Art »Schreibstottern«, dem später nur schwer beizukommen ist.

Denken ist Bewegung — Schreiben ist Denken

Eine unbeholfene, schlechte Handschrift behindert das schulische Lernen in allen Fächern gleichermaßen. Klarheit der Schrift fördert Klarheit im Denken: wer schreibt, verlangsamt zwangsläufig den Denkprozess, was wiederum das tiefere Verständnis fördert und beim Einprägen des Lernstoffes hilft. Das aber passiert nur, wenn der Schreibprozeß selbst nicht zuviel Aufmerksamkeit beansprucht — mit anderen Worten: das Schreiben muß flüssig und automatisiert erfolgen. Beim mühsamen Drucken der Buchstaben kann kein Fließen entstehen — auch kein Fließen der Gedanken. Schreibstammeln führt zu Denkblockaden.
Fast alle Schüler machen irgendwann in ihrem Schulleben die Entdeckung, daß sie besser lernen, wenn sie eine Mitschrift, eine Zusammenfassung oder wenigstens Skizzen anfertigen.

Drucken ist nicht Schreiben

Drucken gehört in den Bereich der Mechanik. Eine Hand ist keine Maschine. Handschrift ist Handwerk und damit ein lebendiger Prozeß. Sprechen ist Mundwerk. Das Drucken überlassen wir den Maschinen. Wir hingegen wollen schreiben. Flüssiges Schreiben zu erlernen ist keine vertane Zeit, sondern verhilft zu klaren Denkstrukturen und damit zu besserem Schulerfolg. Computer können nicht schreiben. Und Menschen, die am Computer schreiben, bedienen Maschinen.
Kinder schreiben gern. Schreiben ist eine stille Beschäftigung, Schreiben wirkt beruhigend, man kann dabei ganz zu sich selbst kommen. Wenn den Kindern eine häßliche Schrift aufgezwungen wird, wie sie die Vereinfachte Ausgangsschrift ist, oder sie von Beginn an zum Schreibstottern — sprich Drucken — angeleitet werden, dann vermiesen wir ihnen die Freude am Tun. Ganz schlimm wird es, wenn Kinder nicht mehr unterwiesen werden im Schreiben unter dem Motto: Mach es, wie du willst. Finde das Richtige selbst heraus! Das ist kein Unterricht. Das ist ein Skandal.
Kinder können nicht Schrift »entdecken«, genausowenig wie sie die Rechtschreibung »entdecken« können. Wäre das so, wir könnten alle Schulen schließen und die Lehrer entlassen. Denn beaufsichtigen können wir die Kinder auch anderswo als in ungemütlichen Klassenzimmern.

Karin Pfeiffer

 


Kommentare zu diesem Beitrag:
von Anja (10. Juli 2011, 01:06):
Viel wahres und rin spannender Literaturverweis. Die Aussage, klare Schrift bedeute Klarheit im Denken halte ich für eher abseitig. Bedeutet sie im Umkehrschluss, dass nur mit einer "guten" Handschrift Qualität gedacht werden kann? Schon mal versucht, das anhand von Schriftproben von Nobelpreisträgern und Philosophen zu verifizieren?

Und: nicht jede Änderung im Vergleich zu dem, was wir in der Schule gelernt haben, ist gleichbedeutend mit dem Untergang des Abendlandes ... Ich maße mir hier kein Urteil an, dazu habe ich zu wenig Ahnung von Pädagogik, Didaktik und Grundschülern. Ich halte aber eine gewisse Gelassenheit für angebracht. Ich glaube nicht, dass "schlaue" Kinder durch eine andere Art des Schreibens blöder werden.
 
von von Ursula (18. Juli 2011, 01:44):
Was Sie schreiben, Anja, kann ich nachvollziehen - aber auch das, was Frau Pfeiffer schreibt.
An mir selbst stelle ich immer wieder fest, dass ich beim Schreiben am Computer weniger aufmerksam und konzentriert bin als wenn ich per Hand schreibe, weil ich ja mühelos verbessern kann. Das betrifft nicht nur die Rechtschreibung, sondern auch den Ausdruck und sogar den Inhalt. Wenn ich mit der Hand schreibe, muss ich mindestens einen Satz schon im Kopf fertig stehen haben, sonst laufe ich Gefahr, immer wieder verbessern oder gar neu anfangen zu müssen, wenn das Schriftstück halbwegs fehlerfrei sein und sauber aussehen soll wie etwa ein Brief. Auch die Qualität meiner Handschrift spielt eine Rolle. Je mehr Mühe ich mir mit ihr gebe, desto klarer und disziplinierter bin ich in Gedanken am Werk. Ich lege weniger Pausen ein und schweife auch nicht so leicht ab wie beim Maschineschreiben. Alles bleibt tatsächlich mehr im Fluss, weil sich das letztlich auszahlt.
Dies alles und nichts anderes verstand ich unter der Aussage: Klare Schrift bedeutet Klarheit im Denken. Für mich waren die Worte also vollkommen richtig und kein bisschen abwegig.
Dennoch konnte ich Sie verstehen, weil ich fand, dass der Leser diese These leicht in den falschen Hals kriegen kann. Dann kommt es durch Übertreibung im Verstehen zu der ziemlich falschen Interpretation: Wer nicht sauber schreibt verblödet.
Auch Ihr Umkehrschluss – obwohl als Frage formuliert – beruht auf diesem Missverstehen, so dass Sie schließlich glauben sagen zu müssen: „Nicht jede Änderung in der Schule ist der Untergang des Abendlandes.“
Ich bin mir sicher, dass kein Mensch dies annimmt und wir darum auch keinem zur Gelassenheit raten müssen, nicht Ihnen nicht mir und auch nicht Frau Pfeiffer.
 

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