Rückgabe der Klassenarbeit in einem achten Schuljahr. Die Aufsatzhefte werden verteilt. Mit Spannung schlägt jeder Schüler das Heft auf, sobald er es vor sich liegen hat. Ein schlacksiger Blonder ist aufgestanden und tritt mit dem offenen Heft ans Pult, wo der Lehrer noch einige Eintragungen in das Klassenbuch vornimmt. »Was heißt das?« Der Schüler deutet mit dem Finger auf die rote Schreibe unter seiner Arbeit. »Deine Schrift ist unleserlich und eine einzige Zumutung!« Wozu ist Schrift da? Zum Schreiben? Man könnte es angesichts dieser Szene glauben. Es gab eine Zeit, in der die Lehrkraft vor den Augen aller Texte an die Wandtafel schrieb, welche die Schüler dann in die Hefte zu übertragen hatten. So zeitraubend diese Prozedur auch war: sie besaß einen entscheidenden Vorteil gegenüber der heutigen Verwendung von »schnellen« Schriftkonserven, deren Produktion die Schüler nicht mehr mitverfolgen können. Die Schrift entwickelte sich vor den Augen aller, die Lehrerschrift war Vorbild! Schüler machten ganz selbstverständlich die Erfahrung der chronologisch nachvollziehbaren Entstehung von Buchstaben und Worten. Schreiben ist ein Prozess, die fertige Schrift hingegen eine Augenblickserfahrung. Schreiben kostet Zeit, und ebendiese nahm man sich selbstverständlich, um zu dem gewünschten Ergebnis zu gelangen. (Das Denken gleicht sich dem langsamen Tempo des Schreibens an, was wiederum dem Verstehen die Tür öffnet, ein nicht unbeachtlicher Nebeneffekt: verstehendes und einprägendes Lernen durch Schreiben!) Begabung und Übung Zugegeben: Eine flüssige und wohlgeformte Handschrift ist zum Teil eine spezielle Gabe, die nicht allen in gleichem Maße verliehen ist. Doch ist lesbare Schrift auch das Ergebnis fleißigen Übens. Alle Begabung bleibt unentwickelt ohne Übung. Deshalb gilt: Wer viel schreibt, schreibt besser – eine Binsenweisheit. Unleserlich zu schreiben ist – darf man es so sagen? – auch eine schlechte Gewohnheit. Vorschub leisten mangelnde Sorgfalt im Verbund mit Eile, der Hang zur Bequemlichkeit (der uns allen innewohnt) sowie das folgenreiche Missverständnis von Wesen, Funktion und Zweckgebundenheit der Schrift. (»ICH kann meine eigene Schrift doch lesen, das genügt!«) Schrift als »griechisches Orakel«? Nun wird klar, wie unklug pädagogisches Handeln auf lange Sicht ist, wenn es sich auf Diskussionen mit Schülern über die Interpretation von geschriebenen Wortformen einlässt: Ist dieses da kein kleines, sondern ein großes »W« ? Soll man jener verkrüppelten Hieroglyphe das Attribut des Buchstaben »k« zubilligen, oder handelt es sich um ein »h« oder ein »n«? Wer stöhnend und schimpfend und trotzdem mit aller Nachsicht über einem Geschreibsel brütet, trägt, ohne dies wissentlich zu beabsichtigen, zum guten Gewissen des »Sauklauenträgers« bei. Weshalb sollte der sich Mühe geben, wenn es doch auch so geht? Für den Schreiber ist es allemal bequemer, wenn er aus seiner eigenen »Bringschuld« (deutliches Schreiben) eine »Holschuld« (Mühe auf eiten des Lesers) machen kann. Schrift hat eindeutig zu sein. Sie ist kein griechisches Orakel. Langer Rede kurzer Sinn: Wo Handschriften dem Zweck von Schrift (Leserlichkeit) nicht mehr gerecht werden, müssen zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden, wenn uns etwas an dem Fortbestehen der »Schreibkunst« gelegen ist. (Weshalb dieses Anliegen wichtig ist, wird an anderer Stelle zu behandeln sein.) Was also tun? Wir machen dem Schüler klar, welchen Zweck Schrift erfüllen muss, damit sie überhaupt sinnvoll ist. Dann bieten wir ihm einen Schreibkurs an, den wir ihm (und uns) zu aller Vorteil verordnen. Für Grundschüler empfehlen wir folgenden Dreischritt:
Vom Großen zum Kleinen 1. Wir schwingen Formen und Buchstaben mit lockerer Hand in die Luft, schreiben die Buchstaben mit dem Finger auf die Bank. 2. Auf einen großen Bogen Packpapier oder einen Zeichenblock werden Buchstaben hingeschwungen (mehrmals drüberschreiben), am besten mit einem Wachsmalstift. 3. Es folgt das Üben auf Linien. Auf Erstklass-Lineaturen werden zeilenweise Buchstaben geübt, bis der Bewegungsablauf motorisch gefestigt ist.
Das zeilenweise Schreiben verhilft zu Automatisierung. Die Schüler konzentrieren sich zu Beginn ganz auf die Schreibbewegung. Erst wenn die Motorik verinnerlicht ist, wird beim Schreiben inhaltlich gedacht. Schnelligkeit und Genauigkeit vertragen sich anfänglich nicht. Deshalb legen wir nachdrücklichen Wert auf Sorgfalt. Diese zeitraubende Investition bringt später einen Gewinn durch Zeitersparnis, weil das Schreiben flinker erledigt und das Ergebnis mühelos gelesen werden kann. Außerdem macht die durch Übung automatisierte Schreibbewegung ganz einfach Freude. Karin Pfeiffer Fortsetzung folgt (siehe hier)
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