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Schriftsprache und Denken – Teil I

 
02. August 2011
Schriftsprache und Denken – Teil I
Kategorie: Schriftkultur


foto: birgitH / pixelio 

Die Schrift fördert das Sprachverständnis

Schriftsprache und Denken – Teil I
von Karin Pfeiffer

Durch Schreiben gewinnt man Gedankenklarheit. Der fertige Text ist eher ein Nebenprodukt des Schreibens, weshalb es auch nicht darauf ankommt, Texte möglichst schnell und leicht produzieren zu können, wie es die Trendpädagogik fordert. Was das Schreiben für uns so wertvoll macht, ist der Schreibprozeß selbst. Er setzt die geistige Auseinandersetzung mit einem Thema in Gang, also das, was wir gemeinhin als Denken bezeichnen. Dem Denken werden durch das Schreiben Zügel angelegt. Dies kommt der inhaltlichen Genauigkeit in der kognitiven Auseinandersetzung mit der Welt zugute. Sprache ist das Medium des Denkens. Der menschliche Verstand hat sich parallel zur Fähigkeit, den Dingen Namen zu geben, entwickelt. Während jedoch das gesprochene Wort allzu schnell verweht, zwingt die Niederschrift zum geistigen Verharren und Reflektieren. Das ist die Geburtsstunde des Verstehens, der Vernunft. Seine Kontur und Begriffsschärfe gewinnt das menschliche Denken allein durch die Niederschrift. Wissenschaft wurzelt im geschriebenen Wort. Die erste und wichtigste Aufgabe der Schule besteht daher in der geduldigen Unterweisung aller Kinder im Lesen und Schreiben. Maßnahmen zur Beschleunigung und Abkürzung des Lernvorgangs, sind nicht nur sinnlos, sondern schädlich. Ein Plädoyer für die Besinnung auf eine realistische Unterrichtskultur in der Grundschule.

»Italienisches Lehrstück«
Als es nach dem Zweiten Weltkrieg wirtschaftlich wieder aufwärtsging, wurde es auch für uns einfache Leute erschwinglich, Sommerurlaub am Meer zu machen. Also fuhr ich, damals noch ein Teenager, mit meiner Mutter an die Adria. Wieder zu Hause, belegte ich voller Begeisterung einen Italienisch-Sprachkurs an der Volkshochschule. Ich brachte es immerhin so weit, daß ich mich unter meinen Schulkameradinnen mit einem Mal einer zuvor nie dagewesenen Beliebtheit erfreute. Ich übersetzte die »Liebesbriefe«, die zwischen Italien und Österreich hin und her gingen. Als der Briefverkehr allmählich einschlief, verdunsteten auch meine mühsam erworbenen Sprachkenntnisse. Die Naturgesetze sind unerbittlich: Was nicht gepflegt und benutzt wird, verkümmert.
In diesem Sommer habe ich die Liebe zur italienischen Sprache neu entdeckt. Ich erstand in unserer kleinen Stadtbuchhandlung ein Italienischlehrbuch samt Audio-CD. Schon beim ersten Abhören keimte Irritation. Heute lernt man bekanntlich ganzheitlich und lebensnah. Die akustischen Dialoge branden in Echtzeit ans Gehör – nur keine Laborbedingungen! Dem ungeübten Ohr des Sprachschülers klingt das wie ein ungegliederter Strom von Tönen. Er hört keine Wörter, sie sind ihm nicht vertraut. Weil er deren Schriftform nicht kennt, weiß er nicht, wo diese anfangen und wo sie enden. Geschriebene und gesprochene Sprache sind zwei unterschiedliche Systeme. Beim Sprechen werden die Wörter und Silben zusammengezogen, andere wiederum zerstückelt oder ganz verschluckt. Der versierte Sprecher und Schriftkundige ergänzt das Fehlende im Geiste, er »hört« eine Art Schriftsprache. Daraus erwuchs der pädagogische Irrtum, man solle schreiben wie man spricht. Diese Aufforderung führt zu falschen Ergebnissen. Analphabeten und Schreibschwache nehmen Sprache anders wahr als der des Lesens und Schreibens Kundige. (Siehe dazu die Anekdote vom »Apfeleimer«) Man muß sich das ähnlich vorstellen wie beim Hören einer fremden Sprache, die man erst lernt: erst allmählich erkennt man die Bauteile der Sprache, die Silben, Wörter und Sätze.

Was ich daraus gelernt habe
Während es mir unmöglich war, den gesprochenen Lektionen auf der CD zu folgen, verstand ich das meiste, wenn ich den Buchtext zu Hilfe nahm. Dadurch gelang es, den Wortstrom zu analysieren und zu strukturieren. Das geschriebene Wort verhilft also zu besserem Verstehen des Gesprochenen - und das auch dann, wenn die Schreibweise von der Aussprache abweicht.
Wir brauchen beim Lernen die Erfahrung, die Strukturen zu erfassen - und sei es auch mehr auf gefühlsmäßiger als auf kognitiver Ebene. Überfordert und gestreßt fühlen wir uns, wenn wir mit einem undurchdringlichen Etwas konfrontiert werden, das uns orientierungslos macht. Ein Schüler, der immer nur »Bahnhof« versteht, geht verständlicherweise auf Distanz. Seine Abwehr allem Lernstoff gegenüber ist verständlich. Hier kommen wir ohne Umwege zu den modernen Methoden des Erstlese- und Schreibunterrichts.

Moderne Pädagogik ist ungeduldig
Woher kommt der Druck, der heute auf Kinder ausgeübt wird: schnell muß alles gehen, und noch schneller! Jedwede sich anbietende Abkürzung wird genommen in der (irrigen) Meinung, schneller ans Ziel zu kommen. So soll aus diesem Grunde erstmals in Hamburg die Schreibschrift an den Schulen nicht mehr unterrichtet werden, da dies angeblich zu zeitaufwendig sei. Was ist überhaupt Ziel des Grundschulunterrichts? Fragen wir uns das gelegentlich noch? Wir lassen uns durch äußere Formen blenden. Und wir vergessen den Faktor Zeit. Schnelle Erfolge sind keine Erfolge. Die langfristigen Auswirkungen von pädagogischen Reformen werden selten betrachtet, dazu ist Politik grundsätzlich zu kurzatmig. Und die Schulpädagogik wird seit geraumer Zeit maßgeblich von einer Alianz aus wirtschaftlichen Interessen und Politik bestimmt.

Können kann nicht »unterrichtet« werden
Tüchtigkeit im Handeln kann der Schüler nur erwerben, wenn er selbst etwas macht und es eifrig übt. Dies ist Lernen! Ist dieses Lernen überhaupt durch gewisse Methoden zu beschleunigen? Bewirkt die überhastete Darbietung des Lernstoffes in komplexer Form eine Verbesserung der individuellen Leistungen? Was beim »Pädaogischen Ingeneering« ganz eindeutig zu kurz kommt, ist das praktische Üben. Jeder weiß, daß im Sport allein fleißiges Trainieren zur Verbesserung der körperlichen Leistung führt. Kein Fußballteam wird besser spielen, wenn den Spielern möglichst viel mit Worten erklärt wird. Im kognitiven Lernbereich ist das nicht anders! Wer schreiben lernen will, muß schreiben: täglich und so gewissenhaft und so korrekt wie möglich!
Das offensichtliche Versagen der Alles-auf-einmal Lernmethode mit endlosen theoretischen Erklärungen sollte endlich zum Umdenken bewegen. Selbstbeobachtung – siehe das «Italienische Lehrstück» – kann Verständnis für lernende Kinder wecken. Die Zeiten mögen sich geändert haben, die Moden auch. Aber ein modernes Kind lernt immer noch auf dieselbe Weise, wie Kinder seit Menschengedenken gelernt haben.
Das Neue und Unbekannte ist beängstigend. In der Fülle des Alles sieht und hört der Lernende wenig, nimmt anfangs kaum Muster wahr, muß sich irgendwo festhalten können. Nur so kann er seine Angst überwinden und sich das Neue Stück für Stück einverleiben.

Wie es den Schreibanfängern in der Schule ergeht, die zum Schreiben aufgefordert werden, obwohl sie es eigentlich gar nicht können – dazu mehr im nächsten Beitrag Mitte August. Ich freue mich, wenn Sie wieder vorbeischauen!

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