Ein Kind lernt sprechen Soll der Mensch alles, was er lernen will, von Anfang an theoretisch verstehen und benennen können? Folgt man den Ideen einiger progressiven Vorstellungen in der Pädagogik, dann scheint dies so zu sein. Ein Kind kommt auf die Welt. Es kann nur schreien. Wie lernt es das Sprechen? Müssen wir es ihm erklären, damit es dies lernt? Nein. Das Kind lernt, indem es lauscht. Es hört Laute. Es will sie nachahmen. Es übt so lange, bis dies gelingt. Zuerst sind es nur einzelne Töne, später werden daraus Silben und ganze Wörter, die das Kleinkind nachzusprechen beginnt. Anfangs wird es die volle Bedeutung der imitierten Worte nicht begreifen, doch im Sprechhandeln mit den Erwachsenen schält sich allmählich eine Kontur heraus: es keimt ein erstes abstraktes Wortverständnis. Verständnis entsteht durch nachahmendes Üben Doch noch lange ist das Verständnis der Sprache eher atmosphärisch. Das Kind wiederholt neue Wörter, es sammelt sie, und das macht ihm Freude. Es probiert sie, erntet Zustimmung oder auch mal ein vergnügtes Lachen (Kindermund), und häuft einen wertvollen Sprachschatz an. Wer dem Kind in diesem Stadium in akademischer Weise beibringen will, WIE Sprache zusammengesetzt ist und WOZU sie da ist, dem wird das Kind eine lange Nase drehen: Wofür es nicht reif genug ist, das will es auch nicht wissen. Vom Konkreten zum Abstrakten Töne und Lautfolgen werden vom Kinde lernbegierig nachgeahmt. Zweck und Funktionsweise der Sprache sind dem Kinde unbekannt und würden es auch nicht interessieren. Es handelt. Die Weichen zum abstrakten Erfassen und allgemeinen Verstehen der Worte werden allein durch das tägliche Sprechen gestellt. Für alles Verstehen gibt es nur eine einzige Entwicklungsrichtung, und die führt vom Konkreten zum Abstrakten. Also vom Tun zum Verstehen. Wird die Reihenfolge umgekehrt, kann jeder Lernfortschritt blockiert werden. Abstrakte Begriffe ohne Lebensbezug bleiben unverdaut Wer mag, kann dies an sich selbst erkunden. Wir benutzen täglich eine Vielzahl von Begriffen, deren Bedeutung uns nicht oder nicht völlig klar ist. Meist handelt es sich dabei um Begriffe aus einer Lebenswelt, die den meisten von uns fremd ist - etwa der Politik. Sofern wir nicht in dieser Teilwelt leben, verbinden wir die Begriffe nicht mit eigenem Handeln. Allein der Klang eines Wortes ist uns dann vertraut. Und genau hier liegt das Problem: weil ein Begriff durch seine allseitige Präsenz in Bild und Wort ein fester Bestandteil unserer Sprache ist, glauben wir, ihn zu verstehen. Wir hören das fragliche Wort aus dem Radio, im Fernsehen, von Bekannten und Vorgesetzten. Wir lesen es in Zeitung, Faltblättern oder Büchern. Würden wir gebeten, diesen Begriff exakt zu definieren und mit Beispielen zu erleuchten, wir würden uns beschämt in blumige Umschreibungen flüchten müssen. Wenn dann Zeit bleibt, können wir darüber sprechen Abstraktes und theoretisches Verständnis von Wörtern (und Sachverhalten) ist das Ergebnis praktischen Übens und steht am Ende der Entwicklung, nicht an deren Beginn. Der moderne Unterricht aber versucht voller Raffinesse Zeit zu sparen, indem er den umgekehrten Weg geht: zuerst die Theorie und dann erst - falls Zeit bleibt - die Praxis (die niedere ...). Über etwas zu reden erscheint offenbar wichtiger, als den Gegenstand der Betrachtung aktiv handelnd zu beherrschen. Wenn uns ein Bauer möglichst wortreich erzählt, auf welche Weise er seinem Acker die doppelte Menge Früchte abringen wird, wenn dann darüber hinaus keine Zeit verbleibt, diese Erfolgstheorie in die arbeitsreiche Praxis umzusetzen, werden am Markttag hungrige Kunden ein langes Gesicht machen: der Stand wird leer sein. Abstraktionsfähigkeit als höchste Stufe der Erkenntnis ist das Ergebnis nachahmenden Handelns und Übens, nicht dessen Voraussetzung. Zu wissen, wie ein Acker fruchtbar gemacht wird, genügt nicht. Durch guten Willen und gescheites Reden wachsen keine Früchte. Eine Pädagogik, die Unterricht mit abstrakten Erklärungen beginnt, ist Zeitvergeudung. Und schlimmer noch: aufgrund ihrer Erfolglosigkeit frustriert sie nicht nur Schüler, sondern auch Lehrer. Deshalb: laßt uns lesen, schreiben, rechnen, singen ... Und wenn dann Zeit bleibt, können wir darüber sprechen. Karin Pfeiffer |