Ketzerisches zum Schulunterricht aus der Schweiz Frontalunterricht Schon länger passé ist auch der Unterricht von vorne, der ja ziemlich langweilig sein kann, je nachdem welches Temperament und Vortragsgeschick der betreffende Lehrer besitzt. An die Stelle des lehrerzentrierten Vortrags-, Frage und Instruktionsunterrichts trat das selbständige Lernen: Gruppenarbeit oder der sogenannte Werkstatt-Unterricht. Ein älterer Lehrer berichtet, wie er unzählige Praktikantinnen erlebt hat und immer wieder erlebt, die aufwendig und liebevoll vorbereitete „Werkstätten“ mit in den Unterricht bringen. Er hege manchmal den Verdacht, die Junglehrerinnen wollten sich dahinter verstecken. Denn arbeiten die Kinder selbständig, ist man aus der Linie. Das Ergebnis sei oft nicht dem Aufwand entsprechend. Was aber beispielsweise der Postenlauf durchs Klassenzimmer garantiert bringt: viel Unruhe. Die schwachen Schüler flutschen unbehelligt mit, ohne viel zu lernen, derweil die Alphatiere an jedem Posten die gestellten Aufgaben erledigen. ... Oft geht es darum, daß etwas läuft im Schulzimmer, daß Abwechslung herrscht. Es soll den Schülern wohl sein ... Langeweile tut dem Lernen gut Der britische Lehrerverband stellte jüngst fest, der Schulunterricht könne gar nicht langweilig genug sein, wie die Tageszeitung „The Independent“ berichtete. Durch Fernsehen, Computer und Videogames seien die Schüler überstimuliert, zu vielen Reizen ausgesetzt. Da könne ein ruhiger Unterricht eine gute Abwechslung sein. Wer gelangweilt sei, werde dazu gebracht, sich Gedanken zu machen und Fantasie zu entwickeln. ... Faktenlernen wird vernachlässigt Traditionelles Lernen von Fakten – zum Beispiel in der Geographie – kommt kaum noch vor. Man unterrichtet „ganzheitlich“. Über große Themen diskutieren, mit wohlklingenden Titeln. Viertklässler sollen aus verschiedenen Medien Informationen über Vergangenes und Gegenwärtiges entnehmen. Sie sollen sich nun also als veritable Historiker betätigen: Quellensammlungen studieren und so weiter – also das tun, was angehende Geschichtswissenschaftler in mehreren Studienjahren erst mühsam lernen müssen. Was sagt mir ein Dokument, beispielsweise aus dem 15. Jahrhundert, wenn ich über die damalige Zeit nichts weiß? Würden die Primarschüler nicht gescheiter einfach ein Geschichtsbuch lesen? Aber eben, das ist ja unmodern ... Vernetztes Denken: im pädagogischer Nebel Der Lehrmittelautor Jules Fickler sagt: „Man will den Schülern beibringen, vernetzt zu denken. Und vergisst dabei, dass ein Netz aus einzelnen Knoten besteht. Diese Knoten wären das Faktenwissen.“ Er hat als Lehrer selber die Ratlosigkeit erlebt, die diese großen Diskussionsthemen bei den Schülern auslösen. „Es kommt dann höchstens ein: „Ich weiß auch nicht.“ Diskutieren kann man erst, wenn man Fakten hat.“ Und abgesehen davon seien Kinder stolz, wenn sie etwas wissen. Der Unterricht will offenbar den heutigen Alltag nachbilden: Im Fernsehen läuft eine Sendung über Tiger in Indien, dann kommt etwas zur Oscar-Verleihung, und am Radio diskutieren sie über Feinstaub, gefolgt von einem Beitrag über die Lage der Maori auf Tasmanien. Bruchstückwissen, Häppchenkost. Ein anderer Lehrer sagt: „Wir leben in einer oberflächlichen Gesellschaft, man redet über alles und jedes, ohne vertiefte Kenntnisse. Lehrer sind nur so gut wie die Gesellschaft.“ (Quelle: Die Weltwoche 5/2006) | |