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Frank und das Vokabelheft

 
08. Januar 2012
Frank und das Vokabelheft
Kategorie: Anekdoten

Im Unterricht
Englisch in der fünften Klasse. Ein kleiner Test steht auf dem Programm. Ich diktiere gerade die erste Aufgabe, da hebt Frank seine Hand. In der Erwartung, er wolle eine Frage zum Test loswerden, rufe ich ihn auf. Er zieht ein kleines Heftchen aus der Tasche, wedelt damit in der Luft herum und fragt: »Kann ich ein neues Vokabelheft anfangen? Das alte ist leer.« (Seltsam, alle meine Schüler sagen, das Heft sei »leer«, wenn sie ausdrücken wollen, es sei »voll« oder »vollgeschrieben«.)
Mein erster Impuls ist ein Gefühl des Ärgers. Was muss Frank das gerade jetzt fragen! Als ob das nicht bis nachher Zeit hätte. Doch besinne ich mich rechtzeitig und sage mit freundlicher Gelassenheit: »Ja.« Dann diktiere ich weiter, und Frank schreibt zufrieden mit. Die Störung ist kurz, kaum wird sie von den anderen registriert.


foto: pixelio

Sie sind ganz anders
Schulkinder sind so ganz anders als Lehrplanmacher, Schulaufsicht und sogenannte Fachleute das wahrhaben wollen. Diese kommen uns Lehrern mit wissenschaftlichen Ansprüchen und romantischen Vorstellungen von Pädagogik, wie sie mit dem Schulalltag nur wenig zu tun haben. Ein paar Superschüler mögen ja mit einem »ideal konstruierten« Unterricht gut zurecht kommen, doch solche sitzen leider nicht vor mir, und schon gar nicht in dieser Klasse. Meine Schüler hier wollen nichts von Modalverben wissen, die brauchen eher meine Entscheidungshilfe bei der Wahl der Farbe zum Unterstreichen von Wörtern, und sie fragen danach, wie viele Zeilen Abstand sie im Heft freilassen sollen unter der Überschrift.

Die »zerbrochene Schallplatte«
Fragen wie die von Frank werden meist dann gestellt, wenn der Lehrer sie am wenigsten erwartet. Das ist ganz und gar nichts Ungewöhnliches. Auch werden immerzu dieselben Fragen gestellt, gelegentlich mehrmals in einer einzigen Unterrichtsstunde. Der Mensch ist eben gewöhnt, nur dann hinzuhören, wenn er selbst es war, der eine bestimmte Frage gestellt hat. Kollektive Erklärungen gelten für alle, also für niemanden. Er will persönlich angesprochen werden, am besten mit dem eigenen Namen. Und deshalb hört er auch nur dann zu, wenn der Lehrer das Wort an ihn persönlich richtet. Anweisungen an das Kollektiv betreffen nun einmal nur das Kollektiv, und wer ist das denn, dieses Kollektiv? Das sind irgendwelche anderen, damit hat man nichts zu tun. Auch der Fernseher spricht mit einem Kollektiv, dem Zuschauerkollektiv. Man kann hinhören, es aber auch sein lassen. Was macht das für einen Unterschied! Und doch: dem Fernsehkasten mit Bildschirm und Lautsprecher ist es schnurz, wenn keiner ihm zuhört. Der Lehrer aber ist ein Mensch aus Fleisch und Blut. Mit all den Wiederholungen an einem Unterrichtsmorgen ähnelt er der »defekten Schallplatte«, bei der gewisse Bruchstücke sich immerzu wiederholen. Und jede Wiederholung schmerzt. Wieviel Ärger häuft sich da an im Laufe der Monate, Jahre, Jahrzehnte ! Aus Perspektive des Schülers ist der Unmut des Lehrers völlig unverständlich: Blöder Pauker! Man wird doch wohl noch fragen dürfen! Aus Perspektive des Lehrers wiederum ist das Verhalten des Schülers nicht nachzuvollziehen, sofern er nicht ein bisschen Psychologieverständnis besitzt. Und selbst wenn: Er ist nur ein Mensch! Keine Schallplatte!

Nicht nur beim Englischtest
Frank fragt nicht, weil er seine Lehrerin, ärgern will. Er fragt aus echtem Bedürfnis nach Orientierung. Für die Atmosphäre im Klassenzimmer ist es allemal förderlich, wenn sich der Lehrer auch bei der zehnten Frage um gelassene Freundlichkeit bemüht. Es sei denn, die Schüler wollen ihn mit der Fragerei nerven — denn auch das gibt es. Den Unterschied sollte ein berufserfahrener Pädagoge kennen.
Oft sind Fragen dieser Art rein rhetorisch. Es geht dem Fragenden dann nicht um die Klärung einer Angelegenheit, sondern um persönliche Zuwendung, die es sich damit »erfragen« kann. Wie geht eine Lehrperson nun damit um? Nun, sie geht am besten darauf ein — ebenfalls dem Scheine nach, vielleicht mit einem Lächeln auf den Lippen? Auf jeden Fall soll Augenkontakt hergestellt werden. Zugegeben: jeder Lehrer ist zugleich ein Mensch mit Gefühlen jeglicher Art. Aber gerade das ist ja auch die Chance. Das Leiden an den negativen Begleiterscheinungen der Massenschule lässt sich nicht verstandesmäßig und mit guten Vorsätzen wegwischen. Und wenn dem geplagten Lehrer bei der soundsovielten Frage nach irgendwelchen »Kleinigkeiten« schließlich der Kragen platzt, ist es nicht schlimm, wenn er bei der nächsten Gelegenheit in aller Ruhe über die Zusammenhänge spricht. Das verstehen schon Kinder in der Grundschule, und sie werden das ihre dazu beitragen, dass der Unterricht reibungsloser verläuft.
Die Dinge sind nun einmal so, wie sie sind. Rahmenbedingungen können wir nicht ändern. Aber im Kleinen, im Mikrobereich, da ist viel zu tun. Und dazu braucht es keiner behördlichen Erlaubnis oder eines Evaluationsplans. Lassen wir uns von dem bürokratischen System der Unpersönlichkeit und des Funktionierenmüssens nicht in unserer Persönlichkeit verbiegen. Üben wir uns in freundlicher Gelassenheit - auch die Schüler leiden zuweilen unter der Massenbeschulung. Geben wir all den Franks in unseren Klassen eine sachlich korrekte Antwort. Jeden Tag aufs neue. Und nicht nur beim Englischtest in einer Fünften.

Verena Katerle

 


Kommentare zu diesem Beitrag:
von Frauke B. (09. Januar 2012, 00:35):
Fragt Frank wirklich aus echtem Bedürfnis nach Orientierung oder kann er seine Frage nur nicht zurückstellen, weil er nicht gelernt hat, spontane Einfälle oder Bedürfnisse zu beherrschen? Das wäre dann ein Mangel an Selbstdisziplin.
Bei meinen Schülern handelt es sich in der Regel um letzteren Fall. Darum finde ich es bedenklich, wenn Eltern oder auch Lehrer solchem Dazwischenfragen mit "freundlicher Gelassenheit" begegnen und ihm mit einer Antwort sogar Erfolg bescheren. Das bestärkt die Kinder nur in ihrem Fehlverhalten.
Besser sind deutliche Signale. Als Frank seine Frage stellt, hätte man zum Beispiel energisch abwinken und sich den Zeigefinger auf den Mund legen können. Kinder verstehen solche Zeichen sehr gut und reagieren darauf meist positiv. Und der Erziehungseffekt ist im Normalfall besser als wortreiches Schimpfen.


Ein bisschen
 
von U. P. (09. Januar 2012, 23:35):
Nach meiner Beobachtung leiden heute tatsächlich viele Kinder an Orientierungslosigkeit. Sie können sich oft nicht auf unterschiedliche Menschen und Situationen einstellen, sondern behalten ihr stereotypes Verhalten überall bei, weil es sich nur an den eigenen Bedürfnissen orientiert. Ich denke auch, dass ehrliche Rückmeldungen mit einer Spur von Gelassenheit ihnen helfen, sich der Wirkung auf die Umwelt besser bewusst zu werden und zu machen. Ohne diese Voraussetzung ist eine Änderung ihres Verhaltens kaum möglich.
Von Ihrer Mimik- und Gestiksprache, Frauke B., halte ich enorm viel. Sie zeigt allen Kindern sehr viel deutlicher die Reaktionen auf ihr Verhalten als tadelnde oder erklärende Worte. Diese richten sich fast ausschließlich an Verstand und Einsicht - also an den Kopf. Mimik und Gestik hingegen sind vielfältiger zu verstehen und reichhaltiger an Auskunft.
 
von Christian (11. Januar 2012, 17:29):
"Ein paar Superschüler mögen ja mit einem »ideal konstruierten« Unterricht gut zurecht kommen, doch solche sitzen leider nicht vor mir...", schreiben Sie, Frau Katerle.
Meine Meinung: Unterricht wird heute vor allem für lernschwache Schüler konstruiert, aber auch für diese keineswegs ideal. Superschüler werden in unserem gutmenschlich domonierten Zeitalter immer mehr vernachlässigt.
 
von Katerle (12. Januar 2012, 11:25):
Hallo, Christian!
Da gebe ich Ihnen völlig recht. Meine Erfahrungen beziehen sich auf einen Grundkurs Englisch, in dem aus dem Gesamt von Hauptschülern noch einmal die "förderbedürftigsten" herausgezogen und gesondert unterrichtet wurden. Vielleicht hätte ich das erwähnen sollen.
Ihre Meinung, dass der Unterricht, der sich immer nach dem Letzten im Geleitzug richtet, "keineswegs ideal" ist, teile ich voll und ganz. Es ist das gute Vorbild, das beflügelt. Es sind die Starken, die motivieren. Wenn wir keine Exzellenz zulassen, sinkt das durchschnittliche Bildungsniveau - und damit die Freude am Lernen, Anstrengung ist dann ebenso sinnlos wie notwendige, zeitweilige Verzicht auf sofortige Lusterfüllung (Spaß!).
Jetzt sage ich einmal etwas ganz Ketzerisches:

Jedes Schulkind hat ein Recht auf persönliches Scheitern!

Wird Scheitern unmöglich, dann gibt es auch keinen persönlichen Erfolg. Gewinnen und Verlieren gehören zusammen. Eins ohne das andere gibt es nicht. Deshalb bin ich immer dafür gewesen, dass in der Schule leistungsbezogene Noten verteilt werden. Wo formal alle "gut" sind, ist es niemand.
 
von Christian (12. Januar 2012, 18:06):
Sie sagen nichts Ketzerisches, sondern "nur" etwas Lebenskluges.
Gewinnen und Verlieren gehören in der Tat zusammen, und wenn Noten nicht mehr leistungsbezogen sind, beginnen die Schüler, sie zu verachten und Schule insgesamt gleich mit.
Die sogenannten Klassenspiegel von heute sind häufig ein Witz, doch interessierte Eltern wissen sie durchaus richtig zu deuten. Das Urteil über die betreffenden Lehrkräfte fällt dann keineswegs so aus wie wahrscheinlich erhofft.
 
von Erinnerer (26. Februar 2014, 21:39):
Wie finde ich unter "Anekdoten" zu Geschichten zurück, die ich hier einstmals gelesen habe? Ich habe sie weitererzählt und würde gern die Quelle wiederfinden. Leider habe ich die Geschichten nicht kopiert.
 
von Karin Pfeiffer (03. März 2014, 21:43):
Dem "Erinnerer" sei Dank für die Notiz: Wir haben nicht gewußt, daß die Anekdoten verschwunden sind und hätten dies wohl auch ohne diesen Hinweis nicht gemerkt.
Der Computer hat eine Menge Beiträge eigenmächtig "rausgeworfen", indem er einfach das Aktiv-Häkchen aus dem Kästchen tilgte. Uns ist das unerklärlich. Wir haben uns heute hingesetzt, und manuell die Häkchen wieder eingefügt. Noch ist nicht alles geschafft, Rest morgen.
 



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