Im Unterricht Englisch in der fünften Klasse. Ein kleiner Test steht auf dem Programm. Ich diktiere gerade die erste Aufgabe, da hebt Frank seine Hand. In der Erwartung, er wolle eine Frage zum Test loswerden, rufe ich ihn auf. Er zieht ein kleines Heftchen aus der Tasche, wedelt damit in der Luft herum und fragt: »Kann ich ein neues Vokabelheft anfangen? Das alte ist leer.« (Seltsam, alle meine Schüler sagen, das Heft sei »leer«, wenn sie ausdrücken wollen, es sei »voll« oder »vollgeschrieben«.) Mein erster Impuls ist ein Gefühl des Ärgers. Was muss Frank das gerade jetzt fragen! Als ob das nicht bis nachher Zeit hätte. Doch besinne ich mich rechtzeitig und sage mit freundlicher Gelassenheit: »Ja.« Dann diktiere ich weiter, und Frank schreibt zufrieden mit. Die Störung ist kurz, kaum wird sie von den anderen registriert. foto: pixelio
Sie sind ganz anders Schulkinder sind so ganz anders als Lehrplanmacher, Schulaufsicht und sogenannte Fachleute das wahrhaben wollen. Diese kommen uns Lehrern mit wissenschaftlichen Ansprüchen und romantischen Vorstellungen von Pädagogik, wie sie mit dem Schulalltag nur wenig zu tun haben. Ein paar Superschüler mögen ja mit einem »ideal konstruierten« Unterricht gut zurecht kommen, doch solche sitzen leider nicht vor mir, und schon gar nicht in dieser Klasse. Meine Schüler hier wollen nichts von Modalverben wissen, die brauchen eher meine Entscheidungshilfe bei der Wahl der Farbe zum Unterstreichen von Wörtern, und sie fragen danach, wie viele Zeilen Abstand sie im Heft freilassen sollen unter der Überschrift.
Die »zerbrochene Schallplatte« Fragen wie die von Frank werden meist dann gestellt, wenn der Lehrer sie am wenigsten erwartet. Das ist ganz und gar nichts Ungewöhnliches. Auch werden immerzu dieselben Fragen gestellt, gelegentlich mehrmals in einer einzigen Unterrichtsstunde. Der Mensch ist eben gewöhnt, nur dann hinzuhören, wenn er selbst es war, der eine bestimmte Frage gestellt hat. Kollektive Erklärungen gelten für alle, also für niemanden. Er will persönlich angesprochen werden, am besten mit dem eigenen Namen. Und deshalb hört er auch nur dann zu, wenn der Lehrer das Wort an ihn persönlich richtet. Anweisungen an das Kollektiv betreffen nun einmal nur das Kollektiv, und wer ist das denn, dieses Kollektiv? Das sind irgendwelche anderen, damit hat man nichts zu tun. Auch der Fernseher spricht mit einem Kollektiv, dem Zuschauerkollektiv. Man kann hinhören, es aber auch sein lassen. Was macht das für einen Unterschied! Und doch: dem Fernsehkasten mit Bildschirm und Lautsprecher ist es schnurz, wenn keiner ihm zuhört. Der Lehrer aber ist ein Mensch aus Fleisch und Blut. Mit all den Wiederholungen an einem Unterrichtsmorgen ähnelt er der »defekten Schallplatte«, bei der gewisse Bruchstücke sich immerzu wiederholen. Und jede Wiederholung schmerzt. Wieviel Ärger häuft sich da an im Laufe der Monate, Jahre, Jahrzehnte ! Aus Perspektive des Schülers ist der Unmut des Lehrers völlig unverständlich: Blöder Pauker! Man wird doch wohl noch fragen dürfen! Aus Perspektive des Lehrers wiederum ist das Verhalten des Schülers nicht nachzuvollziehen, sofern er nicht ein bisschen Psychologieverständnis besitzt. Und selbst wenn: Er ist nur ein Mensch! Keine Schallplatte! Nicht nur beim Englischtest Frank fragt nicht, weil er seine Lehrerin, ärgern will. Er fragt aus echtem Bedürfnis nach Orientierung. Für die Atmosphäre im Klassenzimmer ist es allemal förderlich, wenn sich der Lehrer auch bei der zehnten Frage um gelassene Freundlichkeit bemüht. Es sei denn, die Schüler wollen ihn mit der Fragerei nerven — denn auch das gibt es. Den Unterschied sollte ein berufserfahrener Pädagoge kennen. Oft sind Fragen dieser Art rein rhetorisch. Es geht dem Fragenden dann nicht um die Klärung einer Angelegenheit, sondern um persönliche Zuwendung, die es sich damit »erfragen« kann. Wie geht eine Lehrperson nun damit um? Nun, sie geht am besten darauf ein — ebenfalls dem Scheine nach, vielleicht mit einem Lächeln auf den Lippen? Auf jeden Fall soll Augenkontakt hergestellt werden. Zugegeben: jeder Lehrer ist zugleich ein Mensch mit Gefühlen jeglicher Art. Aber gerade das ist ja auch die Chance. Das Leiden an den negativen Begleiterscheinungen der Massenschule lässt sich nicht verstandesmäßig und mit guten Vorsätzen wegwischen. Und wenn dem geplagten Lehrer bei der soundsovielten Frage nach irgendwelchen »Kleinigkeiten« schließlich der Kragen platzt, ist es nicht schlimm, wenn er bei der nächsten Gelegenheit in aller Ruhe über die Zusammenhänge spricht. Das verstehen schon Kinder in der Grundschule, und sie werden das ihre dazu beitragen, dass der Unterricht reibungsloser verläuft. Die Dinge sind nun einmal so, wie sie sind. Rahmenbedingungen können wir nicht ändern. Aber im Kleinen, im Mikrobereich, da ist viel zu tun. Und dazu braucht es keiner behördlichen Erlaubnis oder eines Evaluationsplans. Lassen wir uns von dem bürokratischen System der Unpersönlichkeit und des Funktionierenmüssens nicht in unserer Persönlichkeit verbiegen. Üben wir uns in freundlicher Gelassenheit - auch die Schüler leiden zuweilen unter der Massenbeschulung. Geben wir all den Franks in unseren Klassen eine sachlich korrekte Antwort. Jeden Tag aufs neue. Und nicht nur beim Englischtest in einer Fünften. Verena Katerle |