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Vereinfachte Ausgangsschrift – ein ständiges Ärgernis

 
01. Oktober 2011
Vereinfachte Ausgangsschrift – ein ständiges Ärgernis
Kategorie: Besser lernen
Eine Zuschrift:

Sehr geehrte Frau Pfeiffer!

Mit großem Interesse habe auch ich Ihre Beiträge zu der VA gelesen. Ich selbst bin Realschullehrerin und wurde zunächst durch meine Schüler mit der VA konfrontiert. Als junge Lehrerin fiel mir zunächst nur auf, dass einige Kinder anders schreiben, als ich es gelernt (und mir für meinen Unterricht wieder angeeignet hatte) hatte; ich fand die Schrift "unansehnlich und schwer lesbar"; die Art und Weise, wie manche Schüler, vor allem Jungen, die Buchstaben schrieben fand ich kurios (an erster Stelle nenne ich hier das "e", das viele eben nicht neu ansetzten, sondern von oben her schrieben, so dass der Buchstabe im Wort aussieht wie ein großes "R"; die Reihe der entarteten Buchstaben könnte ich endlos fortsetzten, aber jeder, der sich mit der Schrift befasst, weiß sicher, wovon ich spreche). Im Laufe meiner Lehrtätigkeit habe ich unzähligen Schülern gezeigt, wie man die Buchstaben anders und somit lesbarer gestalten kann. Die Lesbarkeit war eigentlich mein einziges Kriterium damals.
Jetzt bin ich Mutter von zwei Kindern und mein erster Sohn geht nun in die zweite Klasse. Ich werde (leider) zum zweiten Mal mit der VA konfrontiert.
Um meinem Sohn zu helfen, wollte ich die Schrift "verstehen" und im Rahmen meiner Nachforschungen kann ich mich nur der hier vertretenen Meinung anschließen, es geht um mehr als nur um eine "hässliche" Schrift: auch bei meinem Sohn zeichneten sich bereits in der zweiten Schulwoche genau die Probleme ab, die ich als Lehrerin bei meinen Schülern festgestellt habe. Gerne würde ich einmal mit der Lehrerin über meine Beobachtungen sprechen.
Jetzt stellt sich mir folgende Frage, auf die ich keine Antwort finde:
Könnten die Schwierigkeiten der Schüler, bzw. die Unleserlichkeit der Schrift auch darauf beruhen, dass einfach zu wenig geübt wird? Wenn die Lehrerinnen Arbeitsblätter in VA herausgeben, ist die Schrift ja leserlich, wobei es bei uns so ist, dass die VA von den Lehrerinnen wesentlich runder geschrieben wird als in gedruckten Materialien, die Kinder die Rundungen aber selbst nicht nachschreiben können und ihre Schrift zackiger wird. Zu Hause stelle ich fest, dass diese einmal "zackig" im Unterricht geschriebenen Buchstaben nur mit viel Mühe zu korrigieren sind.
Mit welchem Argument kann man wirklich den Zusammenhang herstellen, zwischen einer unleserlichen Handschrift und der VA an sich.
Falls ich an unserer Schule Gehör finde, möchte ich ungern in der Art falsch verstanden werden, dass es mir nur um die Einführung von "Schönschreibunterricht" geht oder ich die VA einfach aus "geschmacklichen" Gründen oder aufgrund des ungewohnten Schriftbildes ablehne.
Ist aus Ihrer Sicht die SAS eine Alternative?

Vielen Dank für Ihre Mühe im Voraus!

Mit freundlichen Grüßen

B.-L. S.

Zu dieser Anfrage habe ich ausführlich Stellung genommen. Da das Thema Erstschrift von allgemeinem Interesse ist, sind sowohl Anfrage wie Antwort mit dem letzten Newsletter verschickt worden. Wer den kompletten Text lesen möchte, sei eingeladen, sich das pdf-Dokument herunterzuladen. Den Link finden Sie im Anschluß an die folgende Zusammenfassung.

Die Vereinfachte Ausgangsschrift als Erstschrift – Bedenken und Einwände gegen politisch erzwungene »Reformen« im Schulunterricht
Eine lockere Zusammenfassung

Jungen sind benachteiligt
Beim Schreibenlernen tun sich Jungen feinmotorisch etwas schwerer als Mädchen. Die runden Buchstabenformen und Verbindungsschleifen der Lateinische Ausgangsschrift (LA) stützen den Bewegungsablauf der Hand. Trotz Verformungen bleibt die Lesbarkeit weitgehend erhalten. Die Vereinfachte Ausgangsschrift (VA) ist für Schreibanfänger weniger geeignet, weil sich die Buchstaben beim Schreiben regelrecht sperren und häßlich verformen. Knaben tun sich doppelt schwer! Wir zitieren eine Graphologin: »Selbst einem feinmotorisch begabten Kind gelingt es nicht, nach dieser Schreibnorm flüssig und rhythmisch zu schreiben, und weniger begabte Kinder produzieren zerstückelte, kaum lesbare Texte.« (Quelle im Antwortschreiben)

Schrift ist zum Lesen da
Der Zweck von Schrift ist das Lesen – die Kommunikation über Raum und Zeit hinweg. Lesbarkeit ist das einzige Kriterium, das den Schreibunterricht an Schulen zu rechtfertigen vermag. Der Schulunterricht hat die Aufgabe, den Kindern die allgemein gebräuchliche Normschrift zu lehren, also die traditionelle Schrift. Es kann nicht Auftrag der Schule sein, neu erdachte Schriften irgendwelcher geschäftstüchtiger »Erfinder« gesellschaftlich salonfähig zu machen.
Lehrer müssen den Mut haben, die konventionelle Schreibschrift zu üben und auf Lesbarkeit der Schülerhandschrift zu bestehen.

Die VA wirkt unschön
Die Ablehnung der VA wird vielfach mit fehlender Ästhetik begründet: die Retortenschrift gefällt nicht. Die emotionale Ablehnung erfolgt nicht grundlos. Während die Lateinische Ausgangsschrift ihre Form allmählich durch die millionenfache Praxis schreibender Hände bekam und deshalb ergonomisch und bewegungsfreundlich geformt wurde, ist die VA das Gedankenkonstrukt einer einzigen Person (Heinrich Grünewald). Folgerichtig fand die VA weder bei Lehrern, noch bei Eltern Anklang. Niemand wollte diese Schrift freiwillig benutzen – und dennoch wird sie heute an den Schulen gelehrt. Halbwahrheiten und Lügen begleiteten die erzwungene Einführung. Ermöglicht wurde der Coup durch die Verbrüderung wirtschaftlicher Interessen mit der Schulpolitik. Der VA haftet deshalb der Makel der Unaufrichtigkeit an. Philosophisch gesprochen: Wahrheit ist schön, Lüge ist häßlich.

Das allmählich Verschwinden der Schriftkultur
Wenn künftig niemand mehr die LA beherrscht, wird der handwerkliche Verfall der Schreibschriften voranschreiten. Eine ausgeprägte Schreibunlust wird die Folge sein. Eine neuerliche Reform wird, der Not gehorchend, die Schreibschrift an den Schulen ganz abschaffen wollen. Wenn auf das Schreibenlernen verzichtet und nur noch getippt wird, dürfte sich ein überraschender Wandel in der Kultur anbahnen. Denn ohne Einfluß auf das Gehirn und auf das Denken ist das manuelle Schreiben nicht. Schreiben und Lesen sind miteinander verzahnt, zwei Seiten einer Medaille. Welche Folgen die freiwillige Aufgabe von Kulturgütern auf lange Sicht hat, weiß man dann erst, wenn der Gegenstand des Verzichts nicht mehr präsent ist. Erfahrung ist die schmerzhafteste aller Schulen.

Ohne Übung geht es nicht
Kinder sind heute nicht weniger begabt als früher. Der Schriftenverfall ist auch eine Folge mangelnder Übung. Weder der technische Fortschritt noch lernpsychologische Tricks sind geeignet, fehlende Schreibpraxis zu ersetzen. Das bloße Ankreuzen oder Einfüllen von Buchstaben in Wortlücken geht schneller, ist aber ineffektiv. Die Gesellschaft wird sich entscheiden müssen: Pflege der Handschrift oder deren Preisgabe aus vermeintlichem Zeitmangel? Seit Jahren wird ein Spagat versucht: Kinder sollen zwar schreiben lernen, aber das praktische und beharrliche Üben hält man für verzichtbar. Eine pädagogische Erblindung, und zudem vollkommen aussichtslos. Es ist schon erstaunlich, wie sich »die Gesellschaft« immer wieder über die offenbar werdenden mangelhaften Leistungen der Schulabgänger wundern kann.

Schönschreiben – ein Reizthema
Weshalb nehmen bei diesem Thema so viele eine Abwehrstellung ein? Weil man das Schönschreiben als Disziplinierungsmaßnahme mißbrauchen kann (wie zum Beispiel auch den Rechtschreibunterricht)? Grundsätzlich jeder Unterrichtsgegenstand eignet sich für potentiellen Mißbrauch, wenn man es darauf anlegt. Das liegt nicht am Lerngegenstand, sondern an der charakterlichen Disposition des Pädagogen.
Schönschreibunterricht dient dazu, über Klarheit und Wohlgestalt der Buchstabenformen Lesbarkeit herzustellen. Was sollte daran verwerflich sein? Schönschreiben ist zugleich Konzentrations- und Stilletraining – für letzteres nimmt man sich in den Schulen doch auch Zeit. Warum also nicht Schönreiben üben und damit gleich zwei Fliegen mit einer Klappe treffen?
Normierte Buchstabenformen dienen der Kommunikation. Sie bilden ein Koordinatensystem mit den Polen richtig und falsch. Lesbarkeit kann daher niemals eine Frage geschickten Verhandelns sein, etwa, wenn ein Schüler darauf beharrt, der unleserliche Buchstabe stelle »e« dar und keinesfalls ein »R«. Eine solche Diskussion ist nicht nur unnötig, sondern unwürdig. 

Politisch durchgepeitschten Kultur- und Schulreformen: nein, danke!
Schulische Experimente schaden der ganzen Gesellschaft. Früher war klar: der Lehrer trug die Verantwortung für den Unterrichtserfolg. Inzwischen steht eine mächtige Behörde hinter dem Pädagogen: die Administration. Der Lehrer hat den amtlichen Anordnungen zu gehorchen, er ist zum »pädagogischen Beamten« herabgewürdigt worden. Wer trägt jetzt Verantwortung? Die ernüchternde Antwort lautet: Niemand. Das, was nun auch in der Schule eingetreten ist, nennt Hannah Arendt »Niemandsherrschaft«, die anonyme Gewalt der Bürokratie. Untaugliche Methoden, schädliche Unterrichtsstoffe, schlechte Organisation – für all dies ist niemand mehr verantwortlich, im Gewebe der Nichtzuständigkeiten ist jeder nur ein Rädchen im Getriebe. So können gröbste Mißstände fortbestehen, und alle sind betroffen. Doch ist dies logisch, denn wie könnte auch eine Behörde persönlich haften? Verantwortung ist untrennbar mit dem Individuum verbunden. In der Bürokratie gibt es bloß formale Zuständigkeiten, aber keinerlei persönliche Entscheidungsräume. Wenn Anordnungen Unordnung erzeugt, sind alle hilflos.
Richtig schreiben können ist nach wie vor Voraussetzung für die meisten Berufskarrieren. Der Schreibunterricht ist kein Experimentierfeld für profilierungssüchtige Politiker! Es wäre an der Zeit, daß Lehrer sich gegen die behördlichen Anmaßungen wehren: pädagogische Probleme können nur mit pädagogischen Mitteln gelöst werden, nicht durch politische!

Weiteres Schriftexperiment ante portas
Inzwischen dämmert bereits der nächste Interventionsskandal am Horizont herauf. Die Hamburger Schulbehörde ist die erste, die sich bereiterklärt hat, den wirtschaftlichen Begehrlichkeiten eines gewissen Frankfurter Interessenverbandes zur Geltung zu verhelfen. Erleichterungspädagogik ist hierfür das richtige Vehikel, weil sozialpopulistisch wirksam. Die Mühsal des Schreibenlernens soll bald der Vergangenheit angehören. Erreicht wird dies durch eine Ausweitung der bereits bestehenden Beliebigkeit der Buchstabenformen und des Schreibvorgangs – Stichwort »Individualisierung«. Sogar die Schreibrichtung wird aller Tradition entkleidet – von links nach rechts sei zwar »wünschenswert«, aber die individuelle Entdeckerlust des Kindes habe Vorrang. Man wolle der Schrift gegenüber keine »Hörigkeit« erzeugen! Die unvermeidliche Folge: Schulkinder kritzeln auf großen Papierbögen herum wie Dreijährige. Kann solches noch als »Schreibunterricht« gelten? Dem Propagandapamphlet des betreffenden Verbandes kann der Leser entnehmen, daß »Kritzelschrift« ein wichtiges Lernziel des modernen Schreibunterrichts sei; damit der verblüffte Leser nicht etwa glaubt, etwas falsch verstanden zu haben, wird diese Aussage mit eindeutigen Abbildungen untermauert. Allenfalls der Legasthenie wird hier der Boden bereitet, was aber die Geschäftemacher aus demselben Stall wenig kümmert, im Gegenteil. Das Phänomen Legasthenie bildet inzwischen die Existenzgrundlage für zahlreiche Unternehmen und Institutionen – ein lukratives Geschäft mit verzweifelten Eltern.


Mit Pädagogik hat das wenig, mit Politik umso mehr zu tun
Man könnte dies alles für einen schlechten Scherz halten. Jedoch den geschäftstüchtigen Reformern ist es mit ihren Plänen mehr als ernst. Sie haben es eilig, ihr neues Geschäftsmodell bundesweit zu installieren, bevor der öffentliche Geldstrom versiegt. Geht es doch um staatlich garantierte Verdienstmöglichkeiten und um nichts anderes. Mit Speck fängt man bekanntlich Mäuse, und der neue »Speckschmarrn« (= Pfannekuchengericht) aus den pseudopädagogischen Designerküchen muß noch vor dem drohenden Wirtschaftscrash unters Schulvolk. Dazu benötigt man die Hilfe der Politiker, die stets auf Wählerstimmenfang aus sind. Und tatsächlich, schon beißen welche an. Nach Hamburg zeigen sich in Baden-Württemberg die »Bildungs«-Politiker interessiert an diesem Projekt. Sie werden auf offene Ohren stoßen, denn wer wünscht sich keine Erleichterungen beim Lernen? Wir werden also die neueste Designerschrift bekommen, sofern nicht zuvor der fiskalische Zusammenbruch die Finanzierungsquelle für das Unterfangen austrocknet. Für die Pädagogik selbst wäre dieses Szenario indes ein Segen, ja man müßte sich den Finanzcrash geradezu herbeiwünschen! Dann hätte es ein Ende mit den ständigen Einmischungen von außen, und es wären wieder Zeit und Muße vorhanden, einen Unterricht zu gestalten, in dem Kinder wirklich etwas lernen. Die Vermittlung der grundlegenden Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen kostet zwar Zeit, aber wenig Geld.

Was uns für die nächste Zeit erwartet
Vorläufig aber besteht wenig Hoffnung, daß sich wirksamer Widerstand gegen die neuerliche Zumutung aus der Ecke der politpädagogischen Vetternwirtschaft formiert. Wir wachen stets erst dann auf, wenn die Folgen der Einmischung sich schmerzhaft bemerkbar machen. Zudem ist den geschäftstüchtigen Reformern Hilfe von außen gewiß. Wie immer in solchen Fällen sind die Neuheitssüchtigen, Trittbrettfahrer und betulichen Beschwichtiger im Nu zur Stelle. Sie stellen sich an die Spitze der Bewegung und wollen, daß man ihnen widerspruchslos folge. Zögerliche und Nachdenkliche werden unter Verzicht einer sachlichen Auseinandersetzung persönlich angegriffen, Bedenkenträger mit Spott und Hohn übergossen. Man kann sich nicht genug amüsieren über deren angebliche Rückständigkeit und Fortschrittsphobie. Bösartige Formen nimmt es an, wenn den Kritikern eine Nähe zur schwarzen Pädagogik unterstellt wird.
Im demnächst beginnenden Kampfgetöse um die Abschaffung der Schreibschrift werden wir schon bald - darauf kann man hohe Wetten abschließen! - aus allen Mainstream-Medien mit zwei gebetsmühlenhaft wiederholten Sätzen konfrontiert werden:

1. Gibt es wirklich keine anderen Probleme?

2. Schrift hat sich doch immer schon geändert.

Bewährte Totschlagargumente, ohne Zweifel! Und bedenklich vertraut erscheinen sie, woher kommt das? — lassen Sie mich nachdenken — ah,ja! Wir kennen sie von der sogenannten Rechtschreibreform ...

Karin Pfeiffer

Die ausführliche Antwort auf die Anfrage der Lehrerin und Mutter steht zum Herunterladen bereit: siehe hier>>>>

Und hier noch ein aussagekräftiger Link zum Thema Vereinfachte Ausgangschrift.


Zum Weiterlesen:

Vom Abschreiben
Weshalb wir die Handschrift pflegen sollten (Teil I)
Weshalb wir die Handschrift pflegen sollten (Teil II)
Computer und Lernen
Vereinfachte Ausgangsschrift
Die VA: Eine Schrift aus der Retorte

Zum Verständnis der unsinnigen Reformwut in Schulen:

Wer hat das Sagen in deutschen Klassenzimmern



Kommentare zu diesem Beitrag:
von Konrad (21. November 2011, 07:36):
Guter Beitrag! Deckt sich mit meinen persönlichen Erfahrungen.
 



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