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Selbständig lernen

 
02. August 2015
Selbständig lernen
Kategorie: Besser lernen

Missbrauch des Begriffes „selbständig“

Wer sich einmal der Mühe unterzöge, die Fachliteratur zur Pädagogik zu durchforsten, wie oft der Begriff „selbständig“ bzw. damit zusammengesetzte Begriffe aufscheinen, wird auf eine stattliche Anzahl kommen. Dabei handelt es sich jedoch um einen massenhaften Missbrauch des Begriffes.

Selbständig lernen ist kein Lernziel und keine Unterrichtsmethode, sondern das Randergebnis guten Unterrichts. Selbständigkeit ist eine Verhaltensweise des Schülers, der gelernt hat, selbständig zu üben. Üben kann der Schüler nur das, was ihm zuvor gezeigt worden ist, was der Lehrer vorgemacht hat, was schon ansatzweise beherrscht wird. Damit ist selbständig zu lernen diszipliniertes Nachahmen. Ein Handeln ohne Hilfe, welches sich der Lernende selbst auferlegt und so lange durchhält, bis eine Arbeit fertiggestellt ist. (Die Rede ist hier nicht vom forschenden und suchenden Lernen, das den Schülern höherer Lehranstalten oder Universitäten vorenthalten ist, sondern vom Lernen in den ersten Schuljahren.)

So verstanden ist Selbständigkeit eine Charaktereigenschaft, wie die Mündigkeit. Mündig ist ein Mensch, der sich gestellten wie selbstgesetzten Aufgaben unterwirft und diese auch ohne Anleitung und Befehl von außen durchführt. Bevor dies möglich ist, muss ein Fundament an Wissen und Können vorhanden sein, denn sich selbständig etwas völlig Neues beizubringen, erfordert von einem Menschen hohen Zeitaufwand und setzt starken Willen voraus. Nicht alle Menschen besitzen diese Eigenschaften.

Im pädagogischen Neusprech wird Selbständigkeit als etwas völlig anderes definiert. Mit echtem selbständigem Lernen hat der progressive Unterricht nichts gemein. Praktiziert wird das Gegenteilige: die Schulkinder werden angewiesen, sich nicht nur das Lernen „selbständig“ beizubringen, sondern auch die Wissensinhalte „selbständig“ zu erarbeiten. Das ist, als ob man einen Blinden dazu aufforderte, in einem großen, leeren Zimmer ohne Hilfestellung einen nicht näher definierten Gegenstand zu finden. Derart praktiziert, ist „selbständiges Lernen“ nichts anderes als unterlassene Hilfeleistung durch den Pädagogen, der nur noch beobachtet, aber kaum noch unterrichtet. Es ist der unerklärliche Rückzug des Erwachsenen aus der Führungsrolle. Diese aber hat ihm die Natur zugedacht, weil er der Ältere ist und damit einen Vorsprung an Erfahrung und Wissen besitzt. Zur Aufrechterhaltung unseres Kulturniveaus ist es notwendig, die Grundlagen derselben ohne Umwege an die Kinder zu vermitteln. Dies nicht zu tun, stellt eine ungeheure Zeitverschwendung dar. Welch eine Burleske, Schulkinder die Schrift oder das Einmaleins „selbständig entdecken“ lassen zu wollen! Müssten Architekten in ihrer Ausbildung die Gesetze der Statik oder die Grundzüge von Bauzeichnungen „selbständig entdecken“, so fiele die Ingenieurkunst innerhalb von wenigen Jahrzehnten auf das Niveau der Steinzeit zurück. 

Selbständig lernen heißt selbständig und ohne Hilfe das einzuüben, was vorher gezeigt wurde. Das gilt für Stillarbeitsphasen im Unterricht wie für Hausaufgaben gleichermaßen. Auf beides sollte nicht verzichtet werden, denn nur dabei handelt es sich um echte Selbständigkeit beim Lernprozess.
Karin Pfeiffer


Kommentare zu diesem Beitrag:
von H. K. (15. August 2015, 21:08):
Wie wahr! Herzlichen Dank, Frau Pfeiffer.
 



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