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Zeit zum Lernen

 
25. Januar 2010
Zeit zum Lernen
Kategorie: Schule
 

Habt Mut, Schule zu halten!

Lernen lassen, nicht nur abfragen

Ein jedes Kind hat den Antrieb zum Lernen. Lernen bedeutet, etwas zu erfahren, was man noch nicht weiß; etwas einzuüben, was man noch nicht kann. Woher aber weiß das Kind, was es nicht weiß? Wie kommt das Kind darauf, etwas üben zu wollen, was es nicht kann? Das Kind beobachtet die Erwachsenen. Die Erwachsenen sprechen über Dinge, die das Kind noch nicht versteht. Die Erwachsenen tun Dinge, zu denen das Kind noch nicht fähig ist. Noch nicht! Das ist wichtig. Dieses »Noch-nicht« wird durch Lernen verschwinden, Neugier ist die treibende Kraft. Schüler müssen vieles erst lernen.
Lernen am Vorbild ist die kluge Wahl des kurzen Weges. Der weitere Weg wäre Versuch und (notwendiger) Irrtum. Das Nachahmen ist Sicherheitsvorkehrung. Es reduziert die Gefahren, die allem Neuen innewohnen. Zum Kernbestand unserer Kultur zählt die Literalität — die Beherrschung des Lesens und Schreibens. Der Alphabetismus ist dem Menschen nicht angeboren. Jede Generation von Erwachsenen vermittelt die Grundkenntnisse und -fertigkeiten der Schriftkultur an die nachkommende Generation. Stellvertretend für die Eltern hat sich die Schule dieser Aufgabe angenommen. Darin erfolgreich zu sein, scheint von Jahr zu Jahr schwieriger zu werden.

Die modernen Unterrichtsmethoden setzen beim Schüler mentale und praktische Eigenschaften voraus, die Kinder (noch) nicht besitzen, eben weil sie Kinder sind. Solches sind zum Beispiel die nüchterne Einsicht in lästige Notwendigkeiten des Lebens, abgeklärte Weltsicht und Reife, Verantwortungsbewusstsein, Unterscheidungsvermögen zwischen Gut (Nützlich) und Schlecht (Schädlich), Wartenkönnen, Fähigkeit zum (vorübergehenden) Verzicht spontaner Lusterfüllung, Methodenkompetenz, Strebsamkeit, Selbstorganisation im Lernprozeß, Verzichtbereitschaft, Prinzipientreue, Fähigkeit, zwischen wichtig und unwichtig zu entscheiden, originäres Interesse an (noch unbekannten) Lerngegenständen, autodidaktische Qualitäten und anderes mehr. Solche Persönlichkeitsmerkmale zeichnen den an der Lebenswirklichkeit gereiften Erwachsenen aus. Wären sie bereits einem Kind eigen, weil angeboren — jede Erziehung und Beschulung wäre unnötig.

Untaugliche Unterrichtsmethoden — schlechte Lernergebnisse

Das romantische Menschenbild, so sympathisch es auch sein mag, verführt zu unkritischer Anwendung untauglicher Unterrichtsmethoden. Etliche von ihnen verhindern nachgerade das Lernen. Allein die Spaßorientierung erzeugt Oberflächlichkeit und dämpft die individuelle Leistungsbereitschaft. Ohne Freude gelingt zwar nichts — aber echte Freude erwächst dem ernsthaften Tun, nicht der Methodenvielfalt des didaktischen Klamauks.
Kinder wollen etwas lernen! Sie wollen sich anstrengen, wollen in die Welt der Erwachsenen hineinwachsen, sich nützlich machen, das Bewunderte und Bestaunte nachahmen, sich darin üben, ihre Kräfte im Wettstreit messen, sich beweisen! Seine Daseinsberechtigung will jeder Mensch selbst erarbeiten. Leistungsfreie Zuteilung von Rechten und Geschenke machen ihn unzufrieden und böse. Er empfindet sie zu Recht als Beleidigung.

Die Schule erfüllt nur dann die an sie gerichteten Erwartungen, wenn die hilflose Methodenkasperei abgestellt wird und statt dessen klar umrissene Inhalte vermittelt werden. Am effektivsten erweist sich dabei der zu Unrecht geschmähte Frontalunterricht. Die Wiederherstellung eines festen Fächerkanons würde die heute vorherrschende Unverbindlichkeit und Verwirrung bei der Vermittlung von Lernstoffen beseitigen. Die nicht abreißenden Klagen über den Schulstress sind keine Folge von zuviel Lerndruck durch kognitive Stoffvermittlung, sondern unvermeidliche Begleiterscheinung des unstrukturierten Unterrichtsgeschehens, in dessen Zentrum nicht mehr der Lehrer steht, sondern die Schüler selbst. Wo die Möglichkeit der Orientierung fehlt, prägen Unsicherheit, Unruhe und Aggressionen die Atmosphäre. Vor allem schwache Schüler sind überfordert. Die Leistungsschere klafft weit auseinander — Folge der entwicklungspsychologischen Fehlstrukturierung. Professor Dr. Reinhard Franzke nennt diesen Unterricht »Hebammen- und Fragedidaktik« und umschreibt damit plastisch die Umkehrung der Reihenfolge des Lernens, wonach zuerst abgefragt, dann erst gelernt wird anstatt umgekehrt. Moderne Lehrbücher vermitteln wenig neues Wissen, vielmehr wird Wissen abgefragt. Woher aber soll der Lernende denn nun dieses Wissen haben? Das Kind ist auf außerschulische Wissensquellen angewiesen. Die Kecken und die von Haus aus gut vorinformierten Kinder kommen durch, die Langsameren und die Benachteiligten, sie haben das Nachsehen.

Weshalb wird in der Schule nicht Grundlegendes geübt?

In allen Gesprächen mit Eltern kommt früher oder später das Gesprächsthema immer zu der zentralen Frage: »Weshalb nur wird in der Schule nicht mehr gelernt und geübt, worauf es ankommt, nämlich das Lesen, Schreiben und Rechnen?« Als einerseits Betroffene und zugleich doch Außenstehende erkennen die Eltern, dass irgend etwas nicht stimmt. Denn: »Unsere Kinder sind doch auch nicht dümmer als wir es früher waren!« In der Tat.

Wie aber sollen Kinder das Lesen lernen, wenn ihnen durch Lückentexte, Piktogramme und Fernseh- und Computerprogramme Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt werden? Heutige Kinder sind dank auditiver und visueller Informationen bestens mit Informationen versorgt, auch wenn es ihnen an Lesekompetenz mangelt. Wen wundert, wenn sich ihre Neugier nicht auf den mühsam zu entschlüsselnden Text richtet?
Wie sollen Kinder eine flüssige Handschrift und das richtige Schreiben lernen, wenn nicht durch emsiges, konsequentes Schreiben und Nachahmen guter Vorbilder?
Welchen Nutzen hat es, wenn des Lesens und Schreibens noch unkundige Schulanfänger mit Hilfe einer Buchstaben-Anlauttabelle eine haarsträubend fehlerstrotzende, aussprachlich individuell eingefärbte Lautschrift zu Papier bringen, die zur schriftlichen Kommunikation ebensowenig taugt wie die Fußabdrücke von Vöglein im Schnee. Im besten Fall sind Übungen mit der Anlauttafel ein hübscher Zeitvertreib, wobei wir uns fragen müssen, ob die Schule Zeit dafür hat. Im schlimmsten Fall aber, der sehr wahrscheinlich eintritt, werden falsche Wortbilder eingeübt. Auch für das Schreibenlernen gilt das Phänomen des ersten Eindrucks: dieser ist prägend, bleibt am längsten im Gedächtnis haften. Fehlerhafte Wortbilder, wie sie durch Benutzung der Anlauttafel zwangsläufig entstehen, verunsichern den Schüler unter Umständen das ganze Schulleben lang.
Und das Rechnen? Wie sollen Kinder Rechenoperationen beherrschen, wenn Rechensicherheit nicht durch fleißiges Üben an »Rechenpäckchen« erworben wurde, weil die dazu nötigen Reihenübungen angeblich langweilig sind und daher nicht mehr zeitgemäß?

Der zum Bürokraten herabgestufte Lehrer

Den Lehrern selbst ist kein Vorwurf zu machen. Sie befinden sich in einer prekären Lage, die sie weder gewollt noch selbst herbeigeführt haben. Das Berufsbild Lehrer hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. An die Stelle des verantwortlichen Lehrers ist die dirigistische Schulbürokratie getreten. Vorschriften und Dienstwege überwuchern das praktische Schulleben und wirken lähmend bis in das Unterrichtsgeschehen hinein. Hauptaufgabe des Lehrers ist nicht mehr wie ehedem die eigenverantwortlich getroffene Stoffauswahl und Präsentation. Zu viel Zeit verbringt der moderne Lehrer mit Pflichten administrativer Genese. Er soll in erster Linie dokumentieren, was im Unterricht abläuft. Nach bürokratischen Vorgaben organisiert, bewertet und prognostiziert der Lehrer Lernfortschritt und soziales Verhalten seiner Schüler. Das dient weder der Qualität des Unterrichts noch des sozialen Klimas in der Schulklasse. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL), Josef Kraus, nennt das »progrediente Testeritis«.

Die schulpolitisch erzeugte Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit wird von allen Beteiligten schmerzhaft empfunden. Mit etwas Einfallsreichtum kann jedoch jeder Lehrer viel für sich selbst und seine Schützlinge erreichen. Sich der Überbürokratisierung des Unterrichts entgegenzustemmen, wo immer dies möglich ist, wird belohnt durch ein deutlich besseres Sozial- und Lernklima in der Klasse. Das sogenannte »Bauchgefühl« sagt uns, was wir tun und lassen sollen. Besonders Grundschullehrer sollten wieder mehr den eigenen Beobachtungen und Instinkten vertrauen. In der Grundschule soll — deshalb Grundschule — der Grundstein der Kulturtechniken gelegt werden, auf dem die weiterführenden Schulen erfolgreich aufbauen können. Lesen, Schreiben und Rechnen bilden nun einmal das Fundament unserer Kultur.
Der Politik und ihren Vertretern aber rufen wir zu: Schuster, bleib bei deinem Leisten! Schule ist zwar ein öffentlicher Raum, aber keine geeignete Arena für diverse politische Einmischungen und Zumutungen. Es sind nicht die Politiker und deren Behördenvertreter, sondern die Lehrer, welche am meisten vom Unterrichten verstehen. Es sind die Lehrer, die sich tagtäglich im praktischen Umgang mit Schulkindern üben. Ein jeder wirke an dem ihm vom Leben zugeteilten Ort!

Peter Stolz

 


Kommentare zu diesem Beitrag:
von U.Schildt-Picht (07. Februar 2010, 11:24):
Dieser Artikel trifft genau den Kern der heutigen Schulpolitik. Durch die Fehler bei der Wissensvermittlung gibt es in den Schulen eine Häufung von Kindern mit angeblicher Rechen- bzw. Lese-Rechtschreib-Schwäche, die wir in all den Jahren vorher nicht hatten!!! Fällt das nicht auf?
Es gibt ein Unterschied zwischen erworbener und tatsächlich vorhandener (hirnorganischer) Lernschwäche. Leider verschlimmert sich der "Zustand" an den Schulen immer mehr. Fast alle Lehrer erleben das in ihrer Arbeit. Die Kinder von heute sind nicht dümmer als früher, aber leider müssen sie eine verfehlte Unterrichtsdidaktik ausbaden und bilden dadurch weniger die Grundlagen des Lernens -Lesen, Schreiben, Rechnen - aus.Ohne Fundament... Wir Lehrer können immer weniger frei entscheiden wie wir unterrichten. In vielen Fortbildungen weisen die Lehrer darauf hin, aber es ändert sich nichts.
Ihre Artikel spiegeln die Meinungen vieler erfahrener Lehrer, aber auch der jungen Lehrer ( die es heute in den Schulen auf Grund fehlender Erfahrungen und wenig praxisorientierter Ausbildung besonders schwer haben) wider.
 
von Peter Stolz (07. Februar 2010, 20:38):
Sehr geehrte Frau Schildt-Picht,
wir danken Ihnen für die bestätigende Resonanz. Viel Kraft und Erfolg wünschen wir Ihnen - und stellvertretend allen Lehrpersonen - beim Versuch, Oasen der Vernunft in den Schulen zu bilden. Auch in aussichtslos erscheinenden Lagen soll man handeln.

Hierzu ein Aphorismus:

Tun, was man tun kann, ist besser, als gar nichts zu tun, nur weil man glaubt, wenig tun zu können. (Ebo Rau)
 



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