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Von Verpackung und Inhalt Wir Menschen tun uns schwer, das Wesen der Dinge zu erkennen. Wir sehen die äußere Hülle, die Farbe, Form, Beschaffenheit. Wir lassen uns von Größe und Anzahl derart beeindrucken, daß wir nicht mehr nach dem Dahinter oder Darinnen fragen. Schon seit geraumer Zeit sind wir von Bildschirmen aller Art umstellt; daher bringen wir es in dieser Meisterschaft besonders weit. Formale Aspekte des Lebens dienen als Surrogat für das Inhaltliche. Die Form, das Design, sie entwickeln sich bei Kaufentscheidungen zum Hauptmotiv. Erworben werden Schuhe, in denen niemand gehen kann; Hosen, die unerbittlich vom Rumpf in Richtung Beine streben; Sofas, über deren gespreizte Beine jeder fällt; Staubsauger, die drei Fremdsprachen beherrschen, aber nicht saugen; Leuchten, die duften statt Licht zu spenden; Kaffeetassen, deren anatomische Form es verunmöglicht, sie in üblicher Weise zum Munde zu führen. Und so fort. Form vor Funktion. Da wir nun die Dinge und ihr Aussehen mit Zweck und Nutzen verwechseln, liegen die Irrtümer nur so auf der Straße herum. Emsig sammeln wir sie ein. Beispiele gefällig? Da ist der Wunsch nach Körperfitness. Der rassige Trainingsanzug ersetzt den Sport. Jeder sieht: da ist eine sportliche Person! Das reicht. Da klemmen die Hosen der Größe 40, neue müssen her. Beim Probieren entdeckt man, daß auf dem Etikett die Größe 38 vermerkt ist. Die Hose paßt! Gleich fühlt man sich auf wundersame Weise um etliche Kilo leichter und erspart sich weitere Fastenrunden. Da sinken die Prüfungsleistungen von Schülern von Jahr zu Jahr. Eine delikate Angelegenheit! Die geistige Potenz der Prüflinge widersetzt sich hartnäckig allen inhaltlichen Änderungsversuchen, deshalb bleibt nichts anderes, als die Verpackung aufzuhübschen. Wenn Sportlichkeit bloß textile Verpackung, Körpervolumen allenfalls Konfektionsgröße ist, dann ist Bildung auch nichts anderes als flexibles Zertifikat auf dem Zelluloseprodukt, das wir Zeugnis nennen. Alles Name, Knall und Brauch. So ist der Mensch nun einmal, und so verfährt er mit sämtlichen, ihm lästig oder ärgerlich erscheinenden Tatsachen der Welt: er verhüllt diese in prächtiges Design, benutzt als Metermaß dehnbares Gummi — und hat der Wirklichkeit schon wieder eins ausgewischt! Christine Cremer |