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Fatale Prüferitis

 
12. Mai 2011
Fatale Prüferitis
Kategorie: Schule

Abfragen statt Lernen
Fortwährend durchgeführte überregionale Leistungstests (Evaluationen) an den öffentlichen Schulen sind unnütz, ja schädlich. Der ständig prüfende Lehrer gleicht jenem Arzt, der in regelmäßigen Abständen und mit großem Brimbramborium die Körperfunktionen testet, ohne gleichzeitig dem Patienten mittels therapeutischer Maßnahmen zu einem stabileren Gesundheitszustand zu verhelfen.
Prüfungen gelten als persönliche Herausforderung und sind durchaus sinnvoll, wenn sie die Zwischen- oder Endstation eines Lernprozesses bilden. Es wird dann für einen eingegrenzten Bereich gelernt und geübt, das macht Sinn. Auf das Prüfungsergebnis kann somit jeder Schüler direkten Einfluß nehmen. Neben seiner spezifischen Begabung bestimmen Fleiß, Durchhaltevermögen und Strebsamkeit das Abschneiden. Die Prüfung stellt eine Bewährungsprobe dar, sie ist zugleich Meßinstrument und Methode im Prozeß der Wissensaneignung. Das unterrichtsbezogene Prüfungsergebnis dokumentiert den persönlichen Lernfortschritt, das verleiht der Anstrengung des Lernens Sinn. Leistungsbezogene Prüfungen sind im demokratischen Sinne gerecht, denn sie geben jedem dieselbe Chance, gleich welcher Herkunft. Die Feststellung der unterrichtsbezogenen Lernleistung ist unparteiisch. Damit unterscheiden sich die Ergebnisse herkömmlicher Schulprüfungen deutlich von jenen Gesinnungsurteilen, wie sie mit der Beurteilung von Begabung oder familiärer Vorprägung gefällt werden. Im Gegensatz zur harmlosen Mathe-Schularbeit als Abschluß eines Lernzirkels ist die Messung grundlegender mathematischer Fähigkeiten und Begabungen eine gesinnungstaktische Maßnahme, deren politische Auswertbarkeit zu unheiligen Zwecken mißbraucht werden kann. Die ehemalige Leistungsschule mutiert zur Gesinnungsschule.

Anonymes »Bildungs-Screening«
Der Prüfungswahnsinn hat Methode; das ganze erinnert an die großflächig durchgeführten Gesundheits-Screenings, deren vorrangiges Ziel die Umsatzsteigerung und Erhöhung der Beschäftigungsquote in der Gesundheitsindustrie ist. Der praktischer Nutzen für die Betroffenen ist gering, wenn nicht gar negativ.
Die heute an den Schulen üblichen Standard-Prüfungen und hochformalisierten Tests werden überwiegend in großem Stile durchgeführt. Während bei den individuellen Prüfungen alten Stils ein gewisser Lerneffekt durchaus vorhanden war (offene Fragen erforderten vom Schüler zusammenhängendes Denken), sind heutige Prüfungsfragen allein nach den Prinzipien einfacher und rascher Auswertbarkeit konstruiert. Das erniedrigt den Prüfling zum trotteligen Lottotipper. Nach dem Reiz-Reaktions-Schema oder im Ratemodus bekommt er zur Aufgabe, Kreuzchen in vorgegebene Kästchen zu plazieren. Das kann jeder Analphabet. Das einzig Gerechte daran ist, daß er sogar eine reelle Chance hat, einige richtige Treffer zu landen.
Inhaltlich weisen Standard-Prüfungen nahezu keinen Bezug zum vorangegangenen Unterricht auf. Das ist kein Wunder, denn die Prüfungsfragen werden in außerschulischen Instituten vorbereitet und formuliert. Das Prüfungs(un)wesen ist zu einem lukrativen industriellen Marktsegment geworden. Arbeitplätze sind entstanden. Und deshalb wird sich an dieser Fehlentwicklung wohl kaum etwas ändern, im Gegenteil. Arbeitsplätze sind heilig. Das Los unserer Schulkinder muß sich dem unterordnen.

Die Entkoppelung von Anstrengung und Erfolg
Entgegen anderslautenden Bekenntnissen besteht der eigentliche Zweck der Prüferitis darin, mittels pseudowissenschaftlicher Mittel Statistiken zu erstellen, mit denen die ständig wachsende Bildungsbürokratie gefüttert werden soll. Lehrer und Schüler werden, ohne daß sie es wissen oder wollen, instrumentalisiert für pädagogikfremde Zwecke.
Die Ergebnisse dieser Prüfungen sind nicht Resultat des persönlichen Lernprozesses. Sie spiegeln nicht den individuellen Lernzuwachs wider, welcher aus dem direkt vorangegangenen Schulunterricht erwachsen ist. Der Sinnzusammenhang von Lernanstrengung und Lernerfolg ist zerschnitten. Gerade aber dieser ist unerläßliche Quelle für die Motivation zum Lernen, für Überwindung von Trägheit und Unlust. 
Schüler sehen sich einer moralisierenden, anonymen Instanz hilflos ausgeliefert, vielen macht das Angst. Auch der Lehrer hat kaum noch Einfluß auf das, was da geschieht, er ist den Regeln der bürokratischen Maschine unterworfen. Der Prüfling gerät zwischen alle Fronten, aufgrund seiner fehlenden Lebenserfahrung und geistigen Unreife gibt er sich selbst die Schuld am Versagen. Gutes Abschneiden hingegen nimmt er als Glücksfall wahr: ein Lottotreffer! Daß eine solche Einstellung für ein gelingendes, schöpferisches Dasein höchst unfruchtbar sind, liegt auf der Hand. Im wirtschaftlich geprägten Alltag gilt eben immer noch: Von nichts kommt nichts!

Wehrt euch!
Was ist das für eine Schule, in der jede Verantwortung für Lehren und Lernen auf außerschulische, nach zentralistisch-planwirtschaftlichem Muster gesteuerte Instanzen übergeht? Lernen ist ein Teil der individuellen Lebensbewältigung, und die Bestimmung darüber dürfen wir uns nicht von irgendwelchen Behörden aus der Hand nehmen lassen. Es bleibt zu hoffen, daß immer mehr Lehrer den Mut haben, sich die obrigkeitliche Einmischung in ihre verantwortungsvolle Tätigkeit mit jungen Menschen zu verbitten. Es ist höchste Zeit, sich gegen das sinnlose, bürokratische Prüferitits-Unwesen aufzulehnen, um die Schüler zu schützen und die Bildung zu retten. Wir brauchen eine »Tea-Party« für die Schule!

 Karin Pfeiffer



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