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Von der Neugierde

 
01. Oktober 2006
Von der Neugierde
Kategorie: Erziehung

Früher war es umgekehrt: die Schüler kamen zum Unterricht, um etwas Neues, Unerhörtes zu lernen, das sie aus der Enge ihrer privaten Welt hinausführte. Heute kommen die Kinder aus der Weite eines aufgeklärten und mit Lernreizen angefüllten Lebens herein in die Enge des Unterrichts. Wie im Schleppnetz gefangene Fischlein zappeln sie und wollen nichts wie rasch wieder hinaus in die bunte Welt des Überflusses.
Schule hat die Aufgabe, sie beispielhaft darin zu unterweisen, mit Fülle und Überfluß zu leben, damit er sie nicht eines Tages erdrückt. Wir brauchen eine Pädagogik der Einschränkung, der Bescheidenheit. ALLES kann man nicht machen. ETWAS muß getan werden. Doch was?

Einschränken, nicht vermehren
Und dies ist - neben der Auseinandersetzung mit mutlosen, aggressiven oder unwilligen Schülern - eine der schwierigsten Aufgaben des Lehrers: sich gegen die Flut von Informationen, Möglichkeiten, Produkten zu stemmen. Den Lernstoff exemplarisch aufzubereiten, ihm eine Richtung zu geben, an der dem Schüler Erinnern und Voranschreiten möglich wird.
Niemand kann alles auf einmal lernen. Wir müssen das fein auftrennen und nacheinander tun. Wenn wir schreiben lernen, dann nur das. Und alles der Reihe nach: Zuerst die Buchstaben, dann die Wörter, dann die Sätze und dann das Buch. Nicht umgekehrt. Wenn wir Klavierspielen lernen, dann eben nur das. Und alles der Reihe nach: Zuerst zwei Töne, dann drei, dann eine Etüde, dann die Tonleitern, dann die Sonatine, dann die Sonate. Nicht umgekehrt. Erst die habituelle und vollständige Beherrschung einer Teilhandlung erlaubt das Weiterschreiten.

Unten anfangen, nicht oben
Fangen wir also lieber nicht mit allem auf einmal an. Und vor allem: fangen wir nicht „am Ziel" an. Hüllen wir Zukünftiges ein. Verdecktes und vorläufig „Verbotenes" macht nämlich neugierig. So ist nun einmal die Natur des Menschen. Neugierige Menschen - besonders die kleinen - strengen sich an, um hinter ein Geheimnis zu kommen. Begriffe wie Geduld und Wartenkönnen kommen in den Sinn. Das verachtete Wort „Verzicht" blinzelt um die Ecke. Wir haben versucht, es zu vertreiben, aber es kehrt in allerlei anderen Gestalten zurück. Verzicht üben sollte man nicht nur beim Essen oder anderen leiblichen Genüssen. Verzichten wir auch darauf, Kinder immer früher mit einer Überfülle an allzu abstraktem Wissen zu konfrontieren, für dessen Sinn weder Fertigkeiten noch Verstand ausgebildet sind.

Die Leiter
Stellen wir uns eine Leiter vor, die an einer hohen Steinmauer lehnt. Was ist hinter dieser Mauer? Nur die Großen können hinaufklettern, denn die Sprossen sind in großem Abstand angebracht. Die Kleinen schauen sehnsüchtig nach oben, Neugier steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Gute Pädagogik nutzt das aus. Sie segelt mit dem Wind. Also fördern wir zuerst die Kletterfertigkeiten an geeigneten, kleineren Geräten. Viel Zeit verbringen wir mit dem Üben. Die Kinder werden mit Eifer dabeisein. Aber es kommen auch Krisen, denn oft geht es beim Üben schlecht voran. Hier heißt es hartnäckig bleiben und immer diese Leiter vor Augen haben, deren Bewältigung den unverstellten Blick über die Mauer erlaubt.
Sind die Glieder dann größer und stark genug, können die ersten sich an diese Leiter wagen. Sie klettern jetzt aus eigener Kraft, sind stolz und voller Tatendrang und wollen endlich ihre Neugier befriedigen. Was sie hinter der Mauer sehen, wird sie nämlich weiter vorantreiben und noch neugieriger machen.

Lernziel: Wartenkönnen
Bleiben wir noch einmal bei jenen, deren körperliche Voraussetzungen und Fähigkeiten noch nicht zum Klettern ausreichen. Nichts wäre ihrer Neugier und ihrem Wollen abträglicher, als wenn Erwachsene sie aus Mitleid gleich hochheben wollten oder ihnen allerlei Hilfsgerät hinstellten, damit sie gleich ohne natürliche Fertigkeiten in die Höhe der Mauer gelangen könnten, nur um hinüberschauen zu können. Widerstehen wir dieser Versuchung! Nicht nur die Kinder, auch deren Erzieher und Lehrer brauchen unendlich viel Geduld!
Übersättigung durch vorschnell und ungefragte Fütterung mit - meist abstrakten und daher unbekömmlichen - Informationen erzeugt Überdruß und geistige Trägheit. Um lernen zu können, bedarf es jedoch der Neugier. Neugier erwächst aus einem vielschichtigen Mangel. Erst der brennende Wunsch, diesen Mangel beheben zu wollen, um mitmachen und „dahinterschauen" zu können, treibt zu persönlichen Leistungen an, die nicht nur Erfolg bringen, sondern auch zufrieden machen.

Was wird hinter der Mauer sichtbar?
Haben Sie einen Blick darüber geworfen?

Karin Pfeiffer

 




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