Säh mir Kohl an „Der Landwirt richtet sich mit der Feldarbeit nach dem Wetter. Sä mir Kohl an!“ Mit diesen Sätzen begann das erste Diktat im neuen Schuljahr. Mephisto, wie die Klassenkameraden den Deutschlehrer nannten, stand vor der Tafel und diktierte. Mir waren die Unterrichtsgepflogenheiten in der neuen Umgebung noch fremd, hatte ich doch gerade den Wechsel von einer kleinen Dorfschule in die große Stadtschule hinter mir. Deshalb traute ich mich auch nicht nachzufragen, als mir der Sinn des zweiten Satzes im Diktat etwas kryptisch anmutete. Andere Länder, andere Sitten, sagte ich mir und schrieb eifrig mit, die anderen schreiben ja auch. Dann kam endlich der Tag, an dem wir die Arbeit zurückbekommen sollten. Ich war sehr gespannt auf das Ergebnis. Mephisto betrat den Klassenraum, den Stapel Diktathefte unter dem Arm. Ein eigenartiges Schmunzeln spielte um seinen Mund, als er nach der Begrüßung das oberste Heft vom Stapel nahm und sagte: „Heute also bekommt ihr die Hefte zurück. Glaubt mir, das Korrigieren macht meist keine Freude, aber diesmal hatte ich meinen Spaß dabei.“ Wir schauten uns ratlos an, weil wir den Worten des Lehrers keinen rechten Sinn abgewinnen konnten. War die Arbeit so über alle Maßen gut ausgefallen? Da warnte Mephisto schon die Voreiligen: „Freut euch nicht zu früh.“ Es war mucksmäuschenstill in der Klasse. Mephisto schlug besagtes Heft auf: „Ich will euch die ersten beiden Sätze des Diktats noch einmal vorlesen. Wahrscheinlich habt ihr sie noch im Ohr.“ Inzwischen hatte ich entdeckt, daß es sich um mein Heft handelte, das der Lehrer in Händen hielt, und mir wurde es kalt und heiß zugleich. Der Lehrer las, wobei er die letzten vier Wörter besonders deutlich aussprach: „Sä mir Kohl an!“ Dann hielt er inne und ließ seinen Blick über den Rand der Brille hinweg in die vor Spannung knisternde Runde schweifen. Zunächst herrschte stumme Ratlosigkeit. Nach einer Weile flackerte ein Kichern auf, dann noch eines, ein belustigter Schrei folgte, und plötzlich brüllte es rings um mich herum vor dröhnendem Lachen. Ich verstand nichts und muß wohl recht dumm dreingeschaut haben. Nachdem mein Sitznachbar wieder einigermaßen bei Puste war, erklärte er mir den Sachverhalt. Aus Scham hätte ich mich am liebsten in eine der Ritzen meiner Bank verkrochen. Ich war zwar von der Dorfschule her gewöhnt, daß Satzzeichen mitdiktiert werden, hatte aber bis zu jenem Tag nicht gewußt, was ein „Semikolon“ ist. Immerhin kann ich mir zum Verdienst anrechnen, unserem Lehrer wenigstens dieses eine Mal die Routine der Korrekturarbeit durch etwas Erheiterung versüßt zu haben. Thormut Schreiber |