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Eine wahre Geschichte aus alten Zeiten

 
23. April 2013
Eine wahre Geschichte aus alten Zeiten
Kategorie: Anekdoten
 Das Wechselgeld
von Veronika Weinreich

Es war im September 1956, die Schule hatte gerade wieder begonnen. Als wir am Mittag nach Hause kamen, stand das Essen bereits auf dem Tisch. Es gab Erbseneintopf. Noch während wir aßen, sagte der Vater: „Morgen geht ihr in den Nachbarort und holt drei Hendl ab.“ Und Mutter fügte hinzu: „Der Bauer hat uns am Vormittag besucht, mit dem haben wir es ausgemacht.“ Meine Schwester Marianne, ein Jahr älter, und ich, sahen uns wortlos an. Wir brauchten gar nicht zu widersprechen, denn was die Eltern sagten, mußte gemacht werden, ob es uns nun gefiel oder nicht. Ich war damals zehn Jahre alt und hatte noch zwei Schwestern und vier Brüder. Wir alle hatten unsere festen Pflichten in der Familie zu erfüllen.

Am nächsten Tag, es war ein Samstag, gingen wir nach dem Essen los. Es war ein ziemlich langer Weg, den Marianne und ich vor uns hatten. Wir wohnten genau in der Dorfmitte von Schwarza. Zuerst mußten wir die endlose Dorfstraße entlang, bis ans Ende, wo nur noch wenige Häuser standen. Dann bogen wir in einen Feldweg ein. Der war ziemlich steil. Wir liegen an Wiesen, Feldern und Waldrändern vorbei. Unterwegs sangen wir Lieder, damit uns der Weg nicht so weit vorkam.

Endlich hatten wir das Nachbardorf Kühndorf erreicht. Jetzt noch die Dorfstraße bis zur Ortsmitte, dann waren wir am Ziel. Die Bäuerin erwartete uns schon. Sie war eine große, hagere Frau mit strengen Gesichtszügen. Sie trug ihr Haar zu einem Knoten gebunden. Ihre braunen Augen sahen müde aus, und ihre Hände waren voller Risse. Doch sie hatte ein Lächeln für uns übrig. Der Bauer war etwas kleiner als sie, schlank und blaß, mit dünnen, grauen Haaren. Auch seine Hände zeigten Spuren harter Arbeit.
„Na, da seid ihr ja!“ begrüßte uns die Bäuerin. „Setzt euch, wir sind gerade dabei, Socken zu stopfen, ihr könnte uns helfen.“ Wir setzten uns, nahmen jede artig eine Socke, Nadel und Faden und fingen an, das Loch damit zu attackieren. Doch wir konnten es leider noch nicht so gut.
Die Bäuerin bemerkte es. „Klappt es nicht?“ fragte sie. „Dann geht in die Küche und macht euch dort etwas nützlich!“ Das taten wir dann auch. Als alles fertig war, bekamen wir eine Tasse Milch und ein Stück Hefezopf. Nach dem langen Weg und der Arbeit schmeckte es noch einmal so gut.
Schließlich mußten wir uns auf den Heimweg machen. Die Bäuerin packte uns die drei Hendl, die natürlich schon küchenfertig waren, in eine Tasche und gab mir das Wechselgeld von 1,90 Mark in die Hand.
„Hast du keinen Geldbeutel?“ wollte sie wissen.
„Nein, ich habe nichts, wo ich das Geld reintun könnte.“ Die Bäuerin lief in die Küche und kam mit einer leeren Backpulvertüte zurück. „Da kannst du das Geld reinpacken.“

Ich tat es, wir verabschiedeten uns und gingen in Richtung Heimatdorf. Kurz bevor wir die Straße erreichten, mußte ich dringend austreten. Ich lief ein Stück die Böschung hinauf und hockte mich hin. Meine Schwester wartete indessen am Straßenrand auf mich. Dann ging es weiter die Straße entlang. Rechts, steil nach unten, lag eine große Wiese mit wunderschönen Blumen in allen Farben. Wir beide waren begeistert. „Wollen wir der Mutter einen Strauß pflücken?“ meinte meine Schwester.
Ich hatte natürlich nichts dagegen. Also den Hang hinab, um an die schönen Blumen zu gelangen. Wir pflückten einen wunderschönen Strauß, bis meine Schwester mahnte: „Jetzt müssen wir aber nach Hause!“
Wir liefen wieder auf der Straße und kamen dem Dorf immer näher. Plötzlich file mir das Geld wieder in. Wo war das Backpulvertütchen?
Ich fand es nicht mehr. Ich mußte es beim Blumenpflücken verloren haben. Also zurück! Wir suchten die ganze Wiese danach ab, doch wir konnten das Tütchen nicht finden. Es wurde schon dunkel. Nun mußten wir aber endgültig nach Hause! Mir war mulmig zumute, denn 1,90 DM war viel Geld für uns. Daheim wurde ich natürlich furchtbar ausgeschimpft.

Die Wochen und Monate vergingen. Es war ein harter Winter. Als das Frühjahr kam, schmolz die Sonne den Schnee nur so fort. Alles grünte, und auch einige Blumen blühten schon. Für uns Kinder war jede Jahreszeit schön. Der Frühling und auch der Sommer vergingen.
Es war bereits Oktober, und im Nachbarort war ein Volksfest. Da durften wir natürlich nicht fehlen. Nach dem Mittagessen gingen unsere Eltern mit uns hin. Jedes Kind bekam eine Bratwurst und durfte einmal mit dem Karussell fahren. Es war für uns ein wunderschöner Tag.
Dann ging es wieder nach Hause. Den Weg kannten wir ja zur Genüge. Kurz bevor wir die Straße erreichten, mußte ich wieder mal austreten. Ich lief die Böschung hoch, bis dorthin, wo die vielen Büsche standen. Als ich mich gerade hinkauern wollte, entdeckte ich im Gras ein verblaßtes Papiertütchen. Ich hob es auf und glaubte zu träumen: In dem Tütchen waren 1,90 Mark - genau mein Wechselgeld, das mir die Bäuerin vor einem Jahr gegeben hatte!
Meine Eltern staunten nicht schlecht. Ich hatte also das Geld nicht beim Blumenpflücken verloren, sondern beim Austreten. Daß ich es nach einem Jahr wiederfand, ist für mich heute noch ein Wunder.

 
   
 Aus: Wo morgens der Hahn kräht. Unvergessene Dorfgeschichten 1912 - 1968
Zeitgut Verlag, Berlin 2007
Seite 324
 
 

 
   

 



Kommentare zu diesem Beitrag:
von Nicknagel (02. Mai 2013, 19:00):
Ob heute Eltern immer noch so auf die paar Münzen Wechselgeld schauen, die ihre Kinder einfach mal verschlampen?
 
von J.J. (06. Mai 2013, 14:02):
Und wenn sie darauf schauen, dann sagen sie wahrscheinlich sofort: "Macht nichts, ist nicht schlimm. Hier hast du ein Stück Schokolade."
Die armen Kinder dürfen niemals ein schlechtes Gewissen haben, egal ob eigene Schuld oder nicht.
 

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