Warum mir Maximilian imponierte
Maximilian, genannt Max, gehört zu jenen Schülern, die ich nach meinem Ausscheiden aus dem Berufsleben noch immer lebhaft vor mir sehe, während andere Gesichter immer mehr verblassen oder bereits vergessen sind. Oft halten ungewöhnliche Situationen die Erinnerung wach, wobei es keine Rolle spielt, ob sie gut sind oder schlecht. Maximilian gehörte zu meiner vierten Klasse, war Brillenträger und wirkte immer etwas eigenbrötlerisch. Er war aber kein Außenseiter, sondern wurde durchaus anerkannt wegen seiner Stärken. Diese lagen vor allem in seinem wachen Verstand. Er durchschaute schnell eine Sache, sah Zusammenhänge und war nicht auf den Mund gefallen, wenn es darum ging, eine Meinung zu äußern oder etwas zu erklären. Sein heller Kopf war sein Hauptkapital, Hände und Füße wirkten dagegen etwas linkisch. Darum machte der Junge im Kunst- oder Sportunterricht keine so gute Figur wie in den übrigen Fächern. Hier war er bestenfalls Durchschnitt. Im großen und ganzen war Max ein sogenannter pflegeleichter Schüler. Regeln versuchte er einzuhalten, Streitereien ging er lieber aus dem Weg. Dennoch sorgte er einmal für Riesenwirbel. An besagtem Tag fing meine Arbeit als Klassenlehrerin erst zur dritten Stunde an. Zuvor hatten die Kinder Unterricht bei einer Kollegin. Schon vor der Klassentür fing mich eine Gruppe aufgeregter Mädchen ab. »Frau Prasuhn, der Max ist ganz frech zu Frau Schmidt gewesen« - »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie frech der war.« - »Das will sie Ihnen auch noch sagen«, sprudelte es wild durcheinander. Im Klassenraum wogten die Wellen der Entrüstung hoch, bis ich endlich für Ruhe sorgte und die Kinder bat, der Reihe nach zu erzählen. Derweil saß Max mit hochrotem Kopf auf seinem Stuhl, blickte trotzig vor sich hin und schien ebenfalls aufgebracht. Wie sich herausstellte, hatte sich Maximilian in der Pause mit einem Jungen aus der Parallelklasse geprügelt. Dieser war heulend zu meiner Kollegin gelaufen. Sie stellte Maximilian zur Rede und fragte: »Warum machst du denn so etwas?« Maximilian antwortete: »Weil es mir Spaß macht, ich kämpfe eben gern.« Auf eine solche Antwort war meine Kollegin nicht gefaßt. Sie empfand diese als Frechheit und gab das dem Jungen deutlich zu verstehen: »Zuerst verprügelst du den Sven und dann sagst du auch noch, daß dir das Spaß macht!? Das ist ja wohl die Höhe.« Zu Maximilian paßten weder Handgreiflichkeiten noch Frechheiten. Etwas ratlos wendete ich mich an den schweigsam an seinem Tisch sitzenden Jungen und hakte nach: »Wie meinst du das mit dem Spaß? Gefällt es dir, anderen wehzutun?« - »Nein«, wehrte er ab, »das tut mir ja auch leid, aber ich kämpfe eben gern. Sven und ich haben schon öfter zusammen gekämpft und bisher ist das ja auch immer gutgegangen. Diesmal war's zuerst auch so, aber dann ist es irgendwie ernst geworden.« Jetzt war mir die Sache klar. Ich wandte mich wieder den Mädchen zu. »Was meint ihr, war Max wirklich frech zu Frau Schmidt?« Die Entrüstung war spürbar geschrumpft, dennoch meinte eine Schülerin, daß man doch so nicht antworten dürfe, irgendwie sei das schon frech. Ich forderte nun alle Kinder auf, mir doch mal zu sagen, welche Antwort für sie in Ordnung gewesen wäre. Es hagelte nur so an Vorschlägen. Einige Beispiele: »Sven hat angefangen, und ich habe mich nur gewehrt.« - »Ich hab' Sven nur aus Versehen getroffen, das wollte ich nicht.« - »Sven hat mich beleidigt, da war ich wütend.« - »Meine Mutter sagt immer, ich soll mich wehren, und das habe ich nur getan.« Maximilian starrte noch immer vor sich hin. Ich fragte ihn schließlich, ob ihm die Vorschläge denn gefielen. »Nein«, meinte er, »dann hätte ich ja immer gelogen und Sven die Schuld gegeben.« Ich nickte zustimmend und bekundete meine Sympathie für seine Haltung. »Was sage ich denn jetzt am besten Frau Schmidt, wenn sie mir nachher von Maximilian erzählt?«, wollte ich von den anderen wissen. Diesmal gab es nur wenige Vorschläge, die letzten Endes alle darauf hinausliefen, daß ich Maximilian in Schutz nehmen sollte, weil er nicht frech sein wollte, sondern nur ehrlich. Die strittige Sache füllte die ganze Schulstunde, was aber auch daran lag, daß die Kinder beim Sammeln von »richtigen« Antworten immer wieder auf ihr Zuhause zu sprechen kamen und ihre dortigen Antworten auf die Frage »Warum hast du das gemacht?« Es entstand ein geradezu lustiger Überbietungswettkampf um die raffiniertesten Methoden. Als ich mich schließlich erkundigte, ob sie denn kein ungutes Gefühl bei all dem Lügen und Schuldabschieben hätten, drucksten die Kinder etwas herum, waren jedoch fast alle der Meinung: »Nicht so richtig.« Das hörte sich immerhin besser an als ein Nein. Kaum ein Schüler hat mir jemals so imponiert wie Maximilian an diesem Tag. Und niemand hat mir die Früchte einer automatischen Warum-Frage so deutlich vor Augen geführt. Ab diesem Tag bin ich äußerst sparsam mit ihr umgegangen. Ursula Prasuhn |