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Newsletter Nr. 32 - Juni 2009

 
02. Juni 2009
Newsletter Nr. 32 - Juni 2009
Kategorie: Newslettertexte
Über Ungeduld und Wartenkönnen
Betrachtungen zum Sozialverhalten in der Schule

Drängeln, Ellenbogen, Rausrufen ...
Sowie in einer Kindergruppe ein bestimmtes Gut zur Verteilung ansteht, beginnt ein ungebärdiges Drängeln und Schubsen. Mit Ermahnungen, Appellen oder der Androhung von Strafen ist wenig auszurichten. Kündigt sich das Unterrichtsende an, hängt eine Traube von Dränglern an der Tür, Körper quetschen sich panikartig in eine Richtung. Wie leicht wird aus einer Gruppe von denkenden Individuen ein geistloses Kollektiv, welches bar jeglicher Vernunft zu sein scheint.

Ungeduld und Zügellosigkeit: Symptome der Masse
Ganz im Widerspruch zu der nicht nur in der Schule beobachtbaren Praxis des rücksichtslosen Vordrängens steht das sittliche Gebot nach dem Gegenteil. Als gesellschaftlich wünschenswert gelten Zurückhaltung, Bescheidenheit, Geduld. Diese Eigenschaften vereint in sich, wer gelernt hat zu warten. Die Fähigkeit zurückzustehen erfüllt in unserem Zusammenleben eine wesentliche Funktion, deren Nutzen hier nicht näher beschrieben werden braucht. Wir fühlen uns dort wohl, wo Ruhe und Gelassenheit das Zusammenleben prägen.

Rücksichtnahme, vorläufiger Verzicht und Wartenkönnen fallen den meisten von uns schwer. Jeder hat unzählige Male erfahren müssen, wie der Schnellere, der Stärkere, der Lautere, der Rücksichtslosere immer wieder das Rennen macht. Wer zu spät kommt oder sich nicht bemerkbar macht, den bestraft das Leben: er wird mit den Resten des begehrten Gutes vorlieb nehmen müssen, sofern er Glück hat. Meist geht er ganz leer aus.

Es herrschen die Gesetze des Dschungels, wo das der Fall ist; diesen gehorcht, wer sich unbekümmert ins Getümmel wirft, ohne Rücksicht auf eventuelle Verluste anderer. Anders als das Individuum reagiert die Menschenmasse nach physikalischen, nicht nach sittlichen Gesetzen. Gustav Le Bon hat dies gut herausgearbeitet in dem noch immer aktuellen Buch »Psychologie der Massen«. Jeder angehende Lehrer sollte dieses Buch gelesen haben.
Der erfahrene Lehrer weiß, daß in einer Schulklasse andere Erziehungsregeln gelten müssen als er sie z. B. in der Nachhilfe praktizieren kann, wo er es mit nur einigen wenigen Kindern zu tun hat.

Weshalb Moralpredigten nicht helfen
Das allgemein praktizierte Verhaltensmuster des Wartenkönnens und der Bescheidenheit sind Voraussetzung für ein friedliches und gerechtes Zusammenleben in Großgruppen. Soweit die Erkenntnis. Und die Realität? Die gewünschten Eigenschaften beim Kinde lassen sich leider nicht durch einen erzieherischen Willensakt herstellen. Dann wäre das Problem gelöst: man nehme - und verfahre wie beim Kochen. Hokuspokus! Aber ach, der strenge Verweis, der leidenschaftliche Appell an die Vernunft, die endlosen Erklärungen und liebevollen Gesten, sie alle verpuffen ebenso wirkungslos wie die zornige Androhung von Strafe.

Einsicht und guter Wille vermögen durchaus etwas: sie wärmen unser Herz. Aber das Verhalten des Menschen in die gewünschte Richtung haben sie noch nie zu ändern vermocht. Alles Reden bleibt ohne Wirkung, wie Wind auf Wassermühlen geblasen. Vergeudete Zeit, vergeudete Kraft, Quelle endloser Frustration bei Eltern und Lehrpersonen; und endlich auch den Kindern selbst. Moralpredigten verletzen die Sensiblen und erheitern die Robusten. Man zuckt die Schultern: »Was soll's. Die oder der ist heut geladen. Das gibt sich wieder.«

Den Eltern und Lehrern daher der vorsorgliche Rat: Dem allseits beliebten »Erziehungsmittel« des Scheltens und des ins-Gewissen-Redens darf man weise entsagen. Sittlich erwünschtes Verhalten als Voraussetzung der Zivilisation bildet durchaus die Grundlagen unserer Kultur, weshalb sie uns auch so wichtig sind. Aber Gott hat uns nicht den Verstand gegeben, um diese Vorschriften Punkt für Punkt zu befolgen - oh nein! Der Mensch, und dazu gehören auch du und ich, ist schließlich ein kreatives Wesen, ausgestattet mit einer bedeutsamen Drüse, der sogenannten Eigensinndrüse. Daran sollten wir denken, wenn wir wieder einmal in Klagen ausbrechen möchten über die schiere Bosheit, Dummheit und »Schlechtigkeit« des Menschen. So verständlich dies ist, müssen wir es dennoch als ganz und gar nutzlos erkennen.

Wir brauchen Regeln
Der Mensch ist grundsätzlich darauf aus, die sich ihm bietenden Möglichkeiten auszuschöpfen - jeder auf seine eigene Weise. Wir probieren und testen die Tragfähigkeit der Umgebung, sind auf der Suche nach Wegen und Schranken. Schranken haben eine doppelte Funktion: sie engen ein, aber sie weisen gleichzeitig den Weg. Allenfalls die Unbelehrbaren stoßen sich an Schranken den Kopf wund, anstatt sich daran entlangzutasten in das Stück Freiheit, das sich dann bietet. Tradition, Rituale, Tabus, religiöse und weltliche Vorschriften und Gesetze - sie alle dienen uns als Schranken und zugleich Wegweiser.

Im Laufe des Lebens begreifen (Gott sei Dank!) die meisten von uns, daß es eine schrankenlose Freiheit nicht geben kann. Das ist der Zeitpunkt, an dem wir das historisch gewachsene gesellschaftliche Korsett aus Regelungen grundsätzlich begrüßen, auch und gerade für die Schule.
(Anmerkung: Davon ausgeschlossen sind willkürliche, zum Zwecke der Unterdrückung und Ausbeutung aufgestellte Gesetze, die in totalitärer Weise in das Privatleben des Einzelnen eingreifen - solche Gesetze machen in der Tat unfrei.)
Das Zusammenleben in der Schule ist schwierig, weil die Gruppierung von Schulklassen nicht auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruht. Eine auf äußeren Befehl hin zusammengewürfelte Anzahl von Kindern bedarf anderer Regeln als etwa eine natürlich gewachsene, dazu noch heterogene Gemeinschaft in einem kleinen Dorf. Eine Schulklasse bedarf deshalb der Führung eines Lehrers mit psychologischem Geschick, der es versteht, einen gerechten Ordnungsrahmen aufzustellen. Wie alles im Leben bedarf dies einiger Zeit der Aufbauarbeit, danach aber wächst die Schulklasse zusammen und praktiziert eine Art Zusammenhalt, bei dem gegenseitige Rücksichtnahme gepflegt wird. (Ein Sinnrahmen muß ebenfalls gesetzt werden - dieser wären Lernziele und ein Leistungsprinzip. Dies aber gibt ein neues Kapitel, wir behalten uns das auf eine spätere Kolumne vor.)

Besonders gefordert ist der junge, unerfahrene Lehrer, der in der Regel mit idealistischen Vorstellungen in den Schuldienst geht und nun von der Psychologie der Masse überrascht wird. Manchem Junglehrer wird es schwerfallen, einen strengen Ordnungsrahmen zu setzen. Er mag uneingestanden an der Erkenntnis leiden, daß seine Person ganz ohne Absicht als »Grenze« herhalten muß, er unwillentlich das angefeindete Hindernis für aufbegehrende und vorandrängende Schüler darstellt. Nun ist er der »Bösewicht«, der das Warten befiehlt, der Zurückhaltung verlangt und ohne dessen Zumutung die Schülerwelt vermeintlich in Ordnung wäre.

Der Zusammenprall im pädagogischen Kosmos verursacht beiden Parteien Schmerzen, sowohl dem Schüler als auch dem Lehrer. Letzterem dürfte das sogar mehr zusetzen, denn das Selbstbild, das er von sich pflegt, gerät von Mal zu Mal mehr ins Wanken. Er meint es doch gut, aber es kommt nicht an. Er wird angefeindet, wo er doch mit den allerbesten Absichten handelt!

Auch Nichthandeln ist Handeln
Wer nicht hinschauen will, nicht eingreifen will, gleichgültig hinnimmt, wie Ungeduld, Rücksichtslosigkeit und Nicht-Wartenkönnen die Ordnung der Gruppe stören, anerkennt damit ungewollt die anarchischen Gesetze des Dschungels. Je größer die Kindergruppe, desto größer die Gefahr der chaotischen Entgleisung. Beinahe komisch wirkt eine in wogenden Schülerfluten untergehende Lehrperson, die ebenso hilf- wie wirkungslos ihre Stimme erhebt oder mit Hilfe anderer akustischer Klangmittel versucht, sich mehr oder weniger erfolglos Gehör zu verschaffen. Es wäre der Würde und Seelenruhe des Lehrers bekömmlich, könnte er solche Situationen von vornherein gar nicht erst entstehen lassen.
In der Tat gibt es einen Punkt, an dem eine Rückkehr so leicht nicht mehr möglich ist. Dann kann es vorkommen, daß Erwachsene aus Selbstschutz es vorziehen, gar nichts mehr zu tun. Die Realität aber ist nach wie vor dieselbe: Formen der Selbstbeherrschung müssen an Schulen gelebt und gefördert werden, wenn wir Zustände verhindern wollen, wie sie in den vergangenen Monaten immer wieder in die medialen Schlagzeilen gerieten.

Wie lernen Kinder das Warten?
Sittlichkeit in all ihren Verhaltensausprägungen ist nichts weniger als die Frucht der geglückten Form einer Ordnung des Zusammenlebens, welche über Generationen hinweg immer mehr verfeinert und an die junge Generation durch Vorbild und Erziehung weitergegeben worden ist. Dieser Ordnung verdanken wir Frieden und Wohlstand, erzeugt durch Arbeitsteilung und freien Handel.
Die Zweckgemeinschaft Schule dient einzig und allein dem Ziel der Einübung kultureller Grundfertigkeiten. Für die Dauer des gemeinsamen Lernens muß eine freundliche, aber feste Organisationsform gefunden werden, deren Bedingungen gemeinschaftsfördernde Eigenschaften beim einzelnen Schulkind ausbilden helfen - wie zum Beispiel das Wartenkönnen.

Wartenkönnen setzt Bescheidenheit voraus. Bescheidenheit zeichnet einen Menschen aus, der Vertrauen hat beim Warten, der zuversichtlich ist, daß für ihn ein Platz vorgesehen ist und er sich deshalb nicht mit List und Gewalt in den Vordergrund schieben muß. Ein geduldig wartendes Kind empfindet nicht die quälende Furcht, den anderen gegenüber ins Hintertreffen zu geraten. Wenn feste Verhaltensregeln befolgt werden und diese für alle Mitglieder der Gemeinschaft gelten, regelt sich vieles von allein. Eine Regel lautet: Das Eigentum des anderen achten! Eine andere: Übertretungen dieser Regel werden konsequent geahndet. Wessen Platz, Besitz und persönliche Rechte nachweislich geschützt sind, wird das Warten nicht mehr als Bedrohung empfinden.

Der schulische Ordnungsrahmen
Alles Handeln ist auf Ausgleich bedacht. Wer gibt, will wiederum bekommen. Warten ist Triebaufschub und kostet Kraft. Welche Entschädigung wartet nach kraftzehrendem Warten? Der reife Mensch ist nicht angewiesen auf materielle Belohnung, Kinder brauchen den deutlich wahrnehmbaren Zusammenhang zwischen »Warten« und »Belohnung«. Ein freiwillig wartendes Kind sollte diese Übung niemals umsonst oder gar zu seinem Nachteil auf sich nehmen müssen. Das mindeste an Gegenleistung sind Zuwendung und echtes, von Herzen kommendes Lob.

Im Privatbereich liegen die Zusammenhänge offen. In der Schule muß der Lehrer bewußt auf die einzelnen Kinder eingehen und auf verschiedene Umstände Rücksicht nehmen. Dazu bedarf es des wachen Sinnes und eines gut ausgebildeten Gerechtigkeitsempfindens. Der Lehrer wird seine Augen am Rücken und seine Ohren in der letzten Bank haben, wie man früher spöttelte. Und da ist etwas dran. Er hat die Aufgabe, vorlaute und sich aufdrängende Kinder nicht zu bevorzugen, sondern sich den stillen und zurückhaltenden Mädchen und Jungen zuwenden.

Auch Dazwischenquatschen ist »Vordrängen«
In jeder Schulklasse sind Kinder, deren Zungenfertigkeit dem Denken keine Chance läßt. Denken benötigt Zeit, Stille, Ruhe, Zurückhaltung, kurz, Wartenkönnen!
Ungefragtes Reden und Dazwischenrufen gehört deshalb in die Kategorie des Vordrängens, des Nicht-Wartenkönnens.
Welche praktischen Maßnahmen für ein Klima, in dem Wartenkönnen gedeiht, kann die Schule außerdem noch ergreifen? Beginnen wir bei scheinbar so banalen Dingen wie der Sitzordnung (bei jüngeren Kindern) und einem persönlichen Fach für jedes Kind. Diese Orte gehen gewissermaßen für eine begrenzte Zeit in den »Besitz« des Kindes über; Schulordnung und Lehrer wachen streng darüber, daß dieses Besitzrecht nicht verletzt wird. Der Unterrichtsstil sollte im vorgenannten Sinne nicht jene Schüler begünstigen, welche Körperkraft, Schnelligkeit oder Schlagfertigkeit einsetzen, um sich auf Kosten der anderen zu begünstigen.

Etwas Mühe macht das schon ...
Aufstellung und Durchsetzung solcher Grundregeln mag manchem als überholt gelten, dennoch sind sie von zeitloser Aktualität. Kinder, die keine Sicherheit empfinden und immer wieder die Erfahrung machen, wie rasch man ihnen etwas wegnimmt oder Vorteile entzieht, werden sich je nach Temperament handgreiflich zu nehmen versuchen, was ihnen zusteht, oder sich entmutigt zurückziehen. Im Privatleben ist der Besitzordnungsrahmen meist wohlgefügt, das sorgt für Gelassenheit. Welches Kind wird abends in sein Schlafzimmer stürmen aus Furcht davor, sein Bett könnte bereits besetzt sein? Wer wird nach der Arbeit in Panik nach Hause hetzen, weil womöglich jemand anderer inzwischen dort wohnen könnte?

Wir haben es schon gesagt; in der Schule gilt es einen speziellen Ordnungsrahmen zu schaffen. Das ist durchaus keine leichte Aufgabe und fordert dem Lehrer, der eine neue Schulklasse bekommt, besonders in der ersten Zeit alle Kraft ab. Auf oben bezeichnete Weise lassen sich die wildesten Rangeleien und Schubsereien schrittweise abstellen.

Ein gerechter Ordnungsrahmen, der jedem Kind seinen Platz, seine Rolle zuweist, ohne autoritär zu sein, ist die Voraussetzung für jedes geduldige Wartenkönnen. Wo sich das einzelne Kind geborgen fühlt, vermag es darauf zu vertrauen, daß auch das Warten und Verzichten durchaus einen Wert hat, auch wenn die positiven Folgen eventuell etwas auf sich warten lassen.

Karin Pfeiffer

 

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