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Hast macht dumm

 
23. April 2013
Hast macht dumm
Kategorie: Besser lernen
   
 Hast macht dumm
von Karin Pfeiffer

 
 

Vermeintlicher oder echter Mangel an Zeit verführt beim schulischen Lernen zu flatterhafter Neugier, aus der kein bleibendes Interesse erwächst. Beharrlichkeit ist die Voraussetzung für Lernen. Es gibt dabei nur ein Problem: die Zuwendung zu einer Sache, der wir uns mit dauerhaftem Interesse widmen, kostet Zeit. Ist diese Zeit wirklich nicht vorhanden?

Unser Lebenstempo steigt. Wir spüren: für das Wesentliche bleibt uns keine Zeit. Wir stöhnen unter der Fuchtel des Arbeitstempos: immer mehr in immer kürzerer Zeitspannen erledigen zu müssen, ist ein Fluch. Die Hast hat vom Wirtschaftsleben auf die Schulen übergegriffen. Das schulische Lernen leidet unter der Mißachtung natürlicher Bio-Rhythmen. Unsere Vorfahren richteten sich noch nach dem Pendelschlag der Natur, sie paßten ihr Leben den Jahreszeiten an, folgten dem Tag-Nacht-Wechsel. Alles zu seiner Zeit! Dank hochentwickelter Technik hat sich der Mensch von der Natur emanzipiert. Nun hat er keine Ausreden mehr, um Ruhephasen einzulegen, muß ständig zu vollem Einsatz bereit sein. Immer mehr Menschen brechen unter der Dauerbelastung zusammen - endlich können sie sich Ruhe gönnen. Krankheit als Notausgang.

Der Umgang mit der Zeit ist für den Menschen zu einem Problem geworden. Die Uhr diktiert ihm ihren eigenen, erbarmungslosen Rhythmus. Schon den Kleinkindern wird ein Zeitplan aufgezwungen: Krippe, Schule, Freizeit - alles geht nach Stundenplan, der dem individuellen Befinden und den kindlichen Bedürfnisse oft diametral entgegensteht. Wir meinen, der Langsamkeit das Tempo vorziehen zu müssen, weil wir hoffen, ein Zeitpolster zu schaffen, um uns darauf ausruhen zu können. Das ist der Grund, weshalb viele Menschen sich selbst unter Zeitdruck setzen, obwohl sie darunter leiden. Die Hoffnung, „Zeit sparen“ zu können, ist eine der größten Illusionen, denen der moderne Mensch große Opfer bringt. Der Verhaltenspsychologe Konrad Lorenz zitierte seinen Lehrer Oskar Heinroth, der zu sagen pflegte: „Neben den Schwingen des Argusfasans ist das Arbeitstempo des westlichen Zivilisationsmenschen das dümmste Produkt intraspezifischer Selektion.“ (in: Konrad Lorenz: Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression)

Die Angst, etwas zu versäumen, wenn man nicht überall dabei, dauernd online und für die Freunde verfügbar ist, hat bereits unsere Kinder erfaßt. Die Schule bildet keinen Ruhepol mehr, wo gelegentliche Langeweile für Verlangsamung sorgt. Wer sich langweilt, kommt zu sich selbst, denkt nach. Übungsaufgaben oder Auswendiglernen gelten als langweilig, ergo werden diese Arbeitsformen vermieden. Verwundert es, wenn Lehrer über den hohen Unruhepegel in Klassenzimmern klagen? Schreiben ist eine der besten und zugleich fruchtbarsten Stilleübungen - weshalb also nicht diese Unterrichtsmethode öfter einsetzen?

Die Schule darf sich, wenn sie ihren Auftrag ernst nimmt, nicht dem Zeitdiktat unterwerfen. Wer sind denn die Leute, die den Lehrern heute vorschreiben, wie sie zu unterrichten haben, was sie im Unterricht durchnehmen sollen und wieviel Zeit sie sich dafür nehmen dürfen? Im Grunde kann dies nur jeder Lehrer für sich selbst und für seine Klasse entscheiden. Es gibt keine zwei Schulklassen auf der Welt, die sich in ihrer Art und Zusammensetzung gleichen. Nicht eine bürokratische Planwirtschaft darf diktieren, wie der Lehrer seinen Unterricht zu führen hat. Er muß frei sein zu sagen: „Dafür nehme ich mir jetzt Zeit, denn die Kinder brauchen Ruhe. Ich nehme mir die Zeit zum Üben, weil ich möchte, daß meine Schüler etwas lernen. Ich bin dagegen, sie zu bloßen Statisten für die amtliche Sollplanerfüllung herabzuwürdigen. Ich bin Lehrer und habe es mit Menschen zu tun. Und für diese Menschen will ich Zeit haben.“

Es ist genug Zeit für uns alle da. Wir müssen nur den Mut haben, sie uns zu nehmen.



 
   
 

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