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Schriftbild und Sprache

 
29. Oktober 2009
Schriftbild und Sprache
Kategorie: Schriftkultur

Sprechen und Denken werden durch unsere Schriftsprache mehr geformt, als wir ahnen. Könnte es sein, daß die Vorstellung vom Begriff und damit die Sicht der Welt eng zusammenhängen mit dem Schriftbild eines Wortes? Bevor ein Mensch schreiben kann, ist sein Sprachverständnis verwaschen, die Wörter und ihre Botschaften werden eigenwillig interpretiert. Dazu drei Beispiele.

Das erste entnehme ich den Erinnerungen an meine eigene Kindheit. Wenn ich, die Fünfjährige, meiner Mutter nicht gehorchen wollte, bekam ich stets denselben, mit ärgerlichem Unterton gesprochenen Satz zu hören: „Deiner werd’ ich schon Herr werden!“ Die heute altertümlich wirkende Aussage habe ich damals auf meine analphabetische Weise interpretiert. Der „Herr“ war für mich ein schlichtes „her“. Und so verstand ich den Satz: „Deiner werd ich schon herwerden.“ Herwerden wie herkommen. Das fand ich zwar seltsam, aber was ist dem Kinde nicht alles ein Schloß mit sieben Siegeln! Als ich viele Jahre später diesen Satz lesend wiederentdeckte, erkannte ich seine wahre Aussage.

Die zweite Erinnerung datiert zurück in die Zeit meines Lehrerdaseins. Eine Schülerin der fünften Klasse Hauptschule, ein des Schreibens nicht gerade sehr mächtiges Kind, aß in der Pause einen Apfel. Als nur noch das Gehäuse übrig war, kam das Mädchen zu mir, um mich zu fragen, wo denn der „Apfeleimer“ geblieben sei. Der Apfelrest in ihrer Hand ließ mich in die Fallgrube stolpern. Verwundert fragte ich nach, was sie denn mit „Apfeleimer“ meine. „Na, den Apfel-Eimer, da wo die Apfelreste reinmüssen.“ Sie suchte den „Abfalleimer.“

Das dritte Beispiel ist ebenfalls meiner Zeit an der Schule entnommen. An einem Montag liefen mir einige Schüler entgegen und erzählten aufgeregt, am vorangegangenen Sonntag sei das „Fahrfest“ gewesen, sie hätten viel Spaß gehabt. Mit den Gepflogenheiten des dörflichen Lebens war ich, die neue Lehrkraft an der Schule, noch nicht vertraut; die Schilderungen der Kinder stürzten mich in stille Ratlosigkeit. Ein „Fahrfest“, was mochte das für ein ominöses Fest sein? Auch vom „Fahrer“ war oft die Rede. Der Skurrilitäten nahm es kein Ende, meine Phantasie lief heiß. Schließlich verdichteten sich etliche Details in eine gewisse Richtung, und endlich dämmerte es mir: das in schlampiger Sprache so genannte „Fahrfest“ war in Wahrheit das jährlich abgehaltene „Pfarrfest“!

So manches Kind meint „Umfall“ sei das richtige Wort für „Unfall“ und spricht das auch so. Wäre die geschriebene Sprache nicht, wir hätten es mit einem ständigen Gesichtswechsel der Wörter und damit einhergehenden Wandel der Weltsicht zu tun. Die Schriftsprache erst schafft einen festen Orientierungsrahmen und damit Kultur. Kultur benötigt und erzeugt zugleich stabile Verhältnisse und damit Voraussagbarkeit. So etwas fängt an und endet bei so nebensächlichen Dingen wie „Herren“ und „Abfalleimern“.

Karin Pfeiffer

 
 




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