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Wenn die Bilderflut das Lernen verhindert

 
18. November 2010
Wenn die Bilderflut das Lernen verhindert
Kategorie: Schule

Das Visuelle im Unterricht

Die Pädagogik legt viel Wert auf Anschauung im Unterricht, denn alles Begreifen geht vom Gegenständlichen aus, wie das Wort be-greifen schon nahelegt. Was wir niemals gesehen, gehört, gefühlt haben, können wir uns nicht vorstellen. Das Abstrakte baut auf dem Konkreten auf, nicht umgekehrt. Insofern ist Anschaulichkeit unentbehrlich für jegliches Lernen.
Die Möglichkeit, Schüler etwas anschauen und angreifen zu lassen, ist jedoch nicht alles. Anschauung führt nur dann zu Erkenntnis, wenn das Kind selbst dabei aktiv wird. Passives Betrachten ist nicht gleich Lernen. Die verbreitete Auffassung, das tägliche Betrachten von Bildern, Schautafeln, Merksätzen oder Filmen setze einen Lernprozeß in Gang, ist nichts als ein bedauerlicher Irrtum. Was ihm bloß gezeigt wird, kann der Mensch nicht lernen. Wäre das anders, so würden Kinder nach einigen Jahren regelmäßigen Fernsehkonsums derart gebildet sein, daß der Schulunterricht überflüssig wäre. Der Kabarettist Dieter Hildebrandt spöttelte: »Das Wort Bildung kommt von Bildschirm. Denn wenn es von Buch käme, hieße es ja Buchung.«

Vom visuellen Chaos zur Ordnung
Sobald das kleine Kind die Augen öffnet, sind die Bilder da. Die Eindrücke sind fremd und ohne Struktur — ein Chaos aus Farben, aus Hell und Dunkel, aus Großflächig und Fein. Ordnung in der visuellen Wahrnehmung stellt sich erst allmählich ein, wenn Erfahrung gesammelt wird durch das eigene Handeln, die Körperbewegung im Raum, das Tastempfinden. Zu den sinnlichen Erfahrungen gesellt sich das Wort als erklärende Instanz. Die Dinge bekommen ihre Namen — sie bekommen sie aber nicht von selbst, sondern nur durch einen liebevollen Vermittler, meist ist es die Mutter. Grundsätzlich dringt nur das in unser Bewußtsein, wofür wir Begriffe haben, Wörter, die wir mit den anderen teilen. Auf diese Weise beginnt das Kind, die Welt zu verstehen. Die Sprache dient dazu, Einzelheiten zu benennen. Allmählich lernt das Kind, die Welt zu interpretieren. Bewußtes visuelles Wahrnehmen, kognitives Lernen, setzt Sprache voraus.

Ein Kleinkind, das im Kinderwagen geschoben wird, kann nichts lernen, sofern nicht die Mutter durch Zuwendung und Sprache dabei hilft, Einzelheiten zu benennen: »Schau mal, das ist ein Hund!« Der Blick des Kindes wird vom Hund zur Mutter, und von der Mutter zum Hund pendeln, wie um sich Rückversicherung zu geben: Da ist das vertraute Bild der Mutter, dort das Neue, was sie »Hund« nennt. Nun erst kann das Kind den Hund sehen, erkennt seine Form, erinnert sich später daran und behält sowohl das Abbild als auch dessen Namen. Das ist der Beginn des Abstrahierens.

Ein mit Bildern überflutetes Kind jedoch wird nichts dazulernen, weil diese Bilder gar nicht als Einzelheiten wahrgenommen werden. Die Gegenstände »entstehen« buchstäblich erst durch die Kommunikation mit dem Erwachsenen. Nun verstehen wir, weshalb wir Kinder nicht allein vor den Fernseher oder Computer setzen sollen. Nun wird klar, daß der verkehrt herumgedrehten Kinderwagen eine Modetorheit ist, dem leider allzuviele Mütter Folge leisten. Der visuelle »Ankerplatz« fehlt: das mütterliche Gesicht. Und noch etwas fehlt: die Aug-zu-Aug-Kommunikation, die das Wort erst so richtig zur Geltung bringt. Die fremde Welt erklärt sich nicht selbst, sie muß durch den Erwachsenen erklärt werden.

Im engen Kontakt mit lebendigen Menschen lernt das Kind sprechen. Jeder Gegenstand muß einen Namen bekommen. Diesen Namen nimmt das Kind nur dann aktiv in seinen Wortschatz auf, wenn es von einem vertrauten Menschen gesprochen wird, und wenn dieser dabei dem Kind sein Gesicht zuwendet. Eine durch Maschinen imitierte menschliche Stimme bewirkt nicht dasselbe. Auch eine unsichtbare Mutter, die mit dem Kind spricht, ist nicht viel wert. Für die geistige Entwicklung des Kindes in den ersten Lebensjahren sind sowohl Blick wie Stimme der Mutter unentbehrlich, wenn es sehen und sprechen lernen soll. Im aktiven, gemeinsamen Betrachten und Erklären der Welt lernt das Kind die Wörter. Daß unsere erste Sprache Muttersprache heißt, ist kein Zufall. Sprachkompetenz ist Grundlage für das Lesen und Schreiben.

Barry Sanders berichtet in seinem lesenswerten Buch »Die Verlust der Sprachkultur« von einem kleinen Jungen, der wegen seines Asthmas die meiste Zeit im Hause bleiben mußte. Seine Eltern waren gehörlos, während das Kind ganz normal hörte. Die Eltern wünschten sich, daß das Kind sprechen lerne, und so setzten sie den Kleinen alle Tage vor den Fernsehapparat. Mit drei Jahren konnte er sehr fingerfertig die Taubstummensprache ausführen, gesprochene Sprache jedoch weder sprechen noch verstehen. Die Bilder des Fernsehens blieben für das Kind tot, obwohl eine elektronische Stimme mit ihrem Erscheinen einherging.

Was können wir daraus folgern?
Weil es so wichtig ist, sei es wiederholt: Visuelle Eindrücke allein befähigen nicht zu Welterkenntnis. Eine Maschine kann dem Kind nichts beibringen. Die gesprochene Sprache bildet die Grundlage für alles kognitive Lernen in der Schule. Zu sprechen lernen Kinder nur, wenn Menschen aus Fleisch und Blut mit ihnen kommunizieren und — auch das ist sehr wichtig — wenn Menschen aus Fleisch und Blut dem Kind geduldig zuhören. Ein Kind braucht auch liebevolle Zuhörer. Die heute vielerorts praktizierte Methode, Schulkinder mit interessanten Lernangeboten, Büchern, Bildern und dem PC sich selbst zu überlassen in der Hoffnung, sie würden sich aus eigenem Antrieb »bilden«, ist einer der größten pädagogischen Irrtümer der Geschichte. Es ist wahr, daß Kinder sich gegenseitig etwas beibringen können; doch wird dies nicht dasselbe sein wie das, was ein Kind vom Erwachsenen lernen kann. Dies bedarf keiner näheren Erläuterung. Kinder benötigen das Vorbild im Handeln und Wissen, das dem ihren überlegen ist. Das kann kein Gleichaltriger leisten.
Fernsehen oder Internet speien ständig Bilder und Wörter aus, jedoch sie sind nicht fähig, zuzuhören. Das Kind befindet sich in einer Einwegkommunikation. Bilder und Bücher sind stumm. Sie »sprechen« nur zu Personen, die bereits lesen und schreiben können und in ihrer geistigen Entwicklung gereift sind.

Eltern kennen das: Kinder überschütten sie mit Tausenden von Fragen, Warum dies, Warum das, schau mal hier, schau mal da, mir tut das weh, was ist das? und so weiter. Je geduldiger auf diese manchmal nervigen Fragen und Klagen eingegangen wird, desto besser wird das Kind sprechen lernen, desto mehr Wörter eignet es sich an, um das Meer der der Eindrücke einzudämmen und damit fähig zu werden, sich zu orientieren. Wenn ein Kind von klein auf daran gewöhnt ist, daß Bild und Wort auseinanderfallen, wird es unter Umständen ein gestörtes Verhältnis zur Sprache und auch zur elterlichen Autorität entwickeln. Wörter werden nicht mehr auf Situationen bezogen, vielmehr sind sie bedeutungslos, denn sie kommen aus dem Off. Dieses Kind sitzt später einmal vor dem Bildschirm mit dem Rücken zur Mutter, wie es das schon im Kinderwagen tat; das Gesicht der Mutter bleibt verborgen, das Kind hört nur die Stimme. Diese Stimme hat kein Gesicht, sie bleibt anonym. Das Kind hat sich daran gewöhnt, irgend etwas zu hören, was keinen Bezug zur Welt hat. Es hat nicht gelernt, zuzuhören, weil es das Gesicht der Mutter nicht sieht. Es kann nicht kommunizieren. Wir lernen nur deshalb sprechen, weil wir damit die Zuwendung bekommen, die wir benötigen — von Angesicht zu Angesicht. Dazu müssen wir uns Zeit nehmen, um unsere Kinder anzuschauen. Wenn wir damit fortfahren, unsere Kinder mit Bildern zu konfrontieren, die wir ihnen nicht erklären, indem wir ihnen unser eigenes Gesicht und unsere eigene Stimme leihen, werden wir eines Tages verzweifelt fragen, weshalb sie weder mit uns sprechen wollen noch das Lesen und Schreiben erlernen können.

Karin Pfeiffer

 



Kommentare zu diesem Beitrag:
von K. Moitje (19. November 2010, 13:03):
Guten Tag Frau Pfeiffer-Stolz,

Ihr Beitrag spricht mich wiederum sehr an und aus meiner Sicht weisen Sie erneut auf schlimme Fehlentwicklungen im Bildungsbetrieb hin.

Ich kann Ihnen nur voll und ganz zustimmen, wenn Sie Folgendes schreiben:

"Ein Kind braucht auch liebevolle Zuhörer. Die heute vielerorts praktizierte Methode, Schulkinder mit interessanten Lernangeboten, Büchern, Bildern und dem PC sich selbst zu überlassen in der Hoffnung, sie würden sich aus eigenem Antrieb "bilden", ist einer der größten pädagogischen Irrtümer der Geschichte. Es ist wahr, dass Kinder sich gegenseitig etwas beibringen können; doch wird dies nicht dasselbe sein wie das, was ein Kind von einem Erwachsenen lernen kann. ... Kinder benötigen das Vorbild im Handeln und Wissen, das dem ihren überlegen ist."

Wie weit diese "Irrtümer des Lernens" aber bereits in der Schule praktiziert werden, verdeutlicht folgender Auszug aus einem Informationsschreiben einer GS an die Eltern einer 2. Klasse.
Hier wird unter der Überschrift EVA (Eigenverantwortliches Lernen und Arbeiten)erläutert, dass dieses Lernprinzip von einer veränderten Lehrer- und Schülerrolle ausgeht und auf Methoden-, Kommunikations- und Teamtraining basiert.
Schüler übernehmen Verantwortung, arbeiten selbstständig, kooperieren in Gruppen, planen gestalten und lösen Probleme.
Weiter steht dort, dass EVA zu mehr Selbstständigkeit, Eigeninitiative, Zielstrebigkeit, Verantwortungsgefühl, Lernbereitschaft, Lernerfolg, Fachkompetenz, Methoden- und Sozialkompetenz führt.
Schließlich wird darauf verwiesen, dass EVA durch Organisationsformen wie Stationenlernen, Tages- oder Wochenplanarbeit, Freiarbeit und Projektarbeit gefördert wird.
Ich halte fest: So wird offensichtlich der Unterricht in einer zweiten Klasse einer Grundschule organisiert.

An anderer Stelle bemerkte ich bereits, dass den Schulen oder den Lehrkräften nicht unbedingt ein Vorwurf zu machen ist, wird diese Form des Unterrichtens doch den zukünftigen Lehrkräften in den Lehrerseminaren vermittelt und von den Schulen anlässlich der Schul-Inspektionen erwartet.

Mich wundert diese Entwicklung auch vor dem Hintergrund, dass z.B. Hilbert Meyer, der ja schon fast als "Vater" des handlungsorientierten Unterrichts bezeichnet werden darf, bereits am 24.09.2004 anlässlich der Vorstellung seines Buches "Was ist guter Unterricht?" in einem Interview mit "Bildungsklick" (www.bildungsklick.de)unter der Überschrift "Die Schlacht um einen besseren PISA-Platz wird im Frontalunterricht geschlagen" seine bisher getätigten Aussagen zu den offenen Unterrichtsformen stark relativierte.
So stellt er klar, dass es zu der bisher immer behaupteten deutlichen Überlegenheit der offenen Unterrichtsformen gegenüber dem Frontalunterricht keine empirischen Nachweise gibt.
Bei der Vermittlung von kognitivem Wissen ist der Frontalunterricht nach H.Meyer den offenen Unterrichtsformen sogar deutlich überlegen.
Deshalb sagt er: "Mischwald ist besser als Monokultur."

Offensichtlich sind diese Erkenntnisse eines der profiliertesten Schulpädagogen in Deutschland bei den verantwortlichen staatlichen Stellen noch nicht angekommen.
Wie mir das Beispiel aus der 2. Klasse einer Grundschule leider zeigt, nimmt der Irrsin immer noch mehr Fahrt auf.

Herzliche Grüße
K. Moitje




 
von Karin Pfeiffer (24. November 2010, 08:19):
Sehr geehrter Herr Moitje,
ich danke Ihnen sehr für Ihre interessante Einlassung. Dem ist inhaltlich nichts hinzuzufügen!
Ihre
Karin Pfeiffer
 
von Ute Schildt-Picht (02. Januar 2011, 11:38):
Den Beitrag von Karin Pfeiffer, aber auch den Kommentar dazu habe ich mit Interesse gelesen. Ich kann beiden Beiträgen nur zustimmen und habe es auch so in der Praxis beim Ausprobieren beider Lehrmethoden erlebt.
 

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