Unterricht an der einklassigen Dorfschule (Westerwald 1962/63) Es war einmal eine einklassige Dorfschule, im Volksmund Zwergschule genannt. Die Struktur dieser Schule war simpel: Alle Jahrgangsstufen von eins bis acht wurden in einem Raum unterrichtet. Jede Gemeinde, insbesondere auf dem flachen Lande, egal wie klein sie war, hatte ein Anrecht auf ihre eigene Schule. In der guten Schulstube der Zwergschule in Dreifelde, in der ich Lehrer war, sah das wie folgt aus: Neben ihren Sitzplätzen standen 23 Kinder vom ersten bis achten Schuljahr und warteten auf die Programmansage. Erstes Schuljahr (zwei Mädchen und zwei Jungen): „Habt ihr eure Schiefertafeln ausgepackt? Gut so. Heute üben wir gemeinsam schreiben, wir machen Auf- und Abschwünge, erst mit dem rechten Zeigefinger in der Luft (der Herr Lehrer macht es langsam vor), dann mit unseren Griffeln auf der Schiefertafel. Wie? Eure Tafeln sind noch verschmiert? Dann macht sie sauber mit dem gut ausgespülten Schwämmchen und trocknet sie mit eurem Tafellappen. Ich schau mir das gleich an.“ Die vier Abc-Schützen setzten sich auf ihre Plätze. Zweites Schuljahr (zwei Jungen): „Schlagt eure Lesebücher auf! Wie heißt unsere Geschichte? Der muntere Maulwurf, richtig. In drei Minuten wollen wir sie laut vorlesen. Bis dahin stilles Lesen bitte.“ Drittes und viertes Schuljahr (drei Mädchen und vier Jungen): „Worüber sprechen wir gerade in Heimatkunde? Über fließende Gewässer. Gut. Dazu baut ihr im Sandkasten das Modell eines Bachlaufs mit Prallhang und Gleithang! Bitte denkt daran: Am besten modelliert es sich mit leicht angefeuchtetem Sand. Leicht angefeuchtet hab’ ich gesagt, Armin!“ Fünftes und sechstes Schuljahr (ein Mädchen und zwei Jungen): „In Erdkunde füllt ihr mit Hilfe der topographischen Karte das Arbeitsblatt „Oberrheingraben“ aus! Günter erklärt noch einmal in Kurzform, wie man mit Hilfe des Maßstabs die Entfernungen berechnet.“ Siebtes Schuljahr (ein Mädchen und zwei Jungen): „Wir rechnen weiter mit Dezimalzahlen. Schriftliche Ausarbeitung mit Partnerkontrolle. An die Arbeit!“ Achtes Schuljahr (ein Mädchen und zwei Jungen): „Naturlehre/Optik. Darstellung des Brechungswinkels im Versuch, danach die Tafelskizze, dann die schriftliche Versuchsbeschreibung. Auf geht’s!“ Keine Fragen mehr? Nein, nicht für den Augenblick. Dann also, zeitversetzt nach Jahrgängen, gemeinsamer Start ins schulische Arbeitsleben. Doch schon nach wenigen Augenblicken war mir klar, dass meine Inszenierung sich nur dann in praktisches Handeln umsetzen ließ, wenn weitere detaillierte Regieanweisungen erfolgten. „Paul, es quietscht auf deiner Schiefertafel! Du musst den Griffel schräg aufsetzen. Guck her, ich zeige es dir!“ „Linda, denkst du beim Vorlesen auch daran, dass alle Sätze mit einem Schlusszeichen enden?“ „Gerold, den besseren Kontrast im Wasser liefert der dunkle Stab. Probiert es aus!“ „Peter und Sabine, eure Ergebnisse in der zweiten Spalte der Tabelle solltet ihr noch einmal überprüfen.“ „Anke, hast du kein Taschentuch dabei?“ „Klaus, du weißt doch: Vorsagen ist untersagt!“ „Vorsicht Heinz, gleich quillt der Sand aus dem Sandkasten!“ „Wie, Armin, schon fertig mit dem dritten Rechenpäckchen? Dann sieh mal nach, ob Brigitte richtig gemessen und umgerechnet hat.“ Meine Regieanweisungen wurden unterbrochen von gedämpften Zwischenrufen, sehr verhalten, damit der Herr Lehrer das laute Vorlesen im zweiten Schuljahr kontrollieren konnte. Ein Blick nach rechts, ein Hinweis links, Ermahnungen hinten, Zuspruch vorn, Korrektur hier, Ansporn dort – kurzum, Gruppen- und Einzelbetreuung im Sekundentakt. Dann war auch diese Schulstunde vorbeigerauscht. Kurze Verschnaufpause gefällig? ... Eines aber wurde mir von Tag zu Tag deutlicher: Das Unterrichten nahm mehr und mehr einen sportlichen Charakter an. Wie ein Cheftrainer auf dem Spielfeld, so konnte ich in der Schule meine Ziele zur erreichen, wenn alle Spieler bereitwillig mitspielten. Manfred Wenderoth
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