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Guten Morgen, Herr Lehrer

 
05. Januar 2015
Guten Morgen, Herr Lehrer
Kategorie: Anekdoten

Unterricht an der einklassigen Dorfschule

(Westerwald 1962/63)

 

Es war einmal eine einklassige Dorfschule, im Volksmund Zwergschule genannt. Die Struktur dieser Schule war simpel: Alle Jahrgangsstufen von eins bis acht wurden in einem Raum unterrichtet. Jede Gemeinde, insbesondere auf dem flachen Lande, egal wie klein sie war, hatte ein Anrecht auf ihre eigene Schule. In der guten Schulstube der Zwergschule in Dreifelde, in der ich Lehrer war, sah das wie folgt aus: Neben ihren Sitzplätzen standen 23 Kinder vom ersten bis achten Schuljahr und warteten auf die Programmansage.

 

Erstes Schuljahr (zwei Mädchen und zwei Jungen): „Habt ihr eure Schiefertafeln ausgepackt? Gut so. Heute üben wir gemeinsam schreiben, wir machen Auf- und Abschwünge, erst mit dem rechten Zeigefinger in der Luft (der Herr Lehrer macht es langsam vor), dann mit unseren Griffeln auf der Schiefertafel. Wie? Eure Tafeln sind noch verschmiert? Dann macht sie sauber mit dem gut ausgespülten Schwämmchen und trocknet sie mit eurem Tafellappen. Ich schau mir das gleich an.“

Die vier Abc-Schützen setzten sich auf ihre Plätze.

 

Zweites Schuljahr (zwei Jungen): „Schlagt eure Lesebücher auf! Wie heißt unsere Geschichte? Der muntere Maulwurf, richtig. In drei Minuten wollen wir sie laut vorlesen. Bis dahin stilles Lesen bitte.“

 

Drittes und viertes Schuljahr (drei Mädchen und vier Jungen): „Worüber sprechen wir gerade in Heimatkunde? Über fließende Gewässer. Gut. Dazu baut ihr im Sandkasten das Modell eines Bachlaufs mit Prallhang und Gleithang! Bitte denkt daran: Am besten modelliert es sich mit leicht angefeuchtetem Sand. Leicht angefeuchtet hab’ ich gesagt, Armin!“

 

Fünftes und sechstes Schuljahr (ein Mädchen und zwei Jungen): „In Erdkunde füllt ihr mit Hilfe der topographischen Karte das Arbeitsblatt „Oberrheingraben“ aus! Günter erklärt noch einmal in Kurzform, wie man mit Hilfe des Maßstabs die Entfernungen berechnet.“

 

Siebtes Schuljahr (ein Mädchen und zwei Jungen): „Wir rechnen weiter mit Dezimalzahlen. Schriftliche Ausarbeitung mit Partnerkontrolle. An die Arbeit!“

 

Achtes Schuljahr (ein Mädchen und zwei Jungen): „Naturlehre/Optik. Darstellung des Brechungswinkels im Versuch, danach die Tafelskizze, dann die schriftliche Versuchsbeschreibung. Auf geht’s!“

 

Keine Fragen mehr? Nein, nicht für den Augenblick. Dann also, zeitversetzt nach Jahrgängen, gemeinsamer Start ins schulische Arbeitsleben. Doch schon nach wenigen Augenblicken war mir klar, dass meine Inszenierung sich nur dann in praktisches Handeln umsetzen ließ, wenn weitere detaillierte Regieanweisungen erfolgten.

 

„Paul, es quietscht auf deiner Schiefertafel! Du musst den Griffel schräg aufsetzen. Guck her, ich zeige es dir!“

„Linda, denkst du beim Vorlesen auch daran, dass alle Sätze mit einem Schlusszeichen enden?“

„Gerold, den besseren Kontrast im Wasser liefert der dunkle Stab. Probiert es aus!“

„Peter und Sabine, eure Ergebnisse in der zweiten Spalte der Tabelle solltet ihr noch einmal überprüfen.“

„Anke, hast du kein Taschentuch dabei?“

„Klaus, du weißt doch: Vorsagen ist untersagt!“

„Vorsicht Heinz, gleich quillt der Sand aus dem Sandkasten!“

„Wie, Armin, schon fertig mit dem dritten Rechenpäckchen? Dann sieh mal nach, ob Brigitte richtig gemessen und umgerechnet hat.“

 

Meine Regieanweisungen wurden unterbrochen von gedämpften Zwischenrufen, sehr verhalten, damit der Herr Lehrer das laute Vorlesen im zweiten Schuljahr kontrollieren konnte. Ein Blick nach rechts, ein Hinweis links, Ermahnungen hinten, Zuspruch vorn, Korrektur hier, Ansporn dort – kurzum, Gruppen- und Einzelbetreuung im Sekundentakt. Dann war auch diese Schulstunde vorbeigerauscht. Kurze Verschnaufpause gefällig?

 

...

 

Eines aber wurde mir von Tag zu Tag deutlicher: Das Unterrichten nahm mehr und mehr einen sportlichen Charakter an. Wie ein Cheftrainer auf dem Spielfeld, so konnte ich in der Schule meine Ziele zur erreichen, wenn alle Spieler bereitwillig mitspielten.

 

Manfred Wenderoth 



 

Der obige Text ist folgender Anthologie entnommen:

Kirchner, Wenderoth, Busch
Guten Morgen, Herr Lehrer

Drei Dorfschullehrer erzählen. 1959 - 2002

Unterhaltsame und heitere Erinnerungen an die einklassige dorfschule.
256 Seiten mit vielen Abbildungen, Ortsregister, Klappenbroschur; Zeitgut Verlag, Berlin 2014
ISBN 978-3-86614-225-1, Euro 10,90

Bestellungen direkt beim Zeitgut Verlag oder in der Buchhandlung. 

Zum Buch
Es war einmal die einklassige Dorfschule
Wer auf dem Land groß geworden ist, kennt sie noch, die einklassige Dorfschule, in der die Schüler aller Altersgruppen gemeinsam in einem Raum unterrichtet wurden. Die Lehrer Siegfried Kirchner, Manfred Wenderoth und Egon Busch begannen Anfang der 1960er Jahre in solchen Dorfschulen ihre Laufbahn in Westdeutschland. Heiter, witzig, oft auch skurril sind die Anekdoten und Geschichten aus dieser Zeit, als der Herr Lehrer neben dem Bürgermeister und dem Pastor noch zu den hochgeachteten Persönlichkeiten im Dorf zählte. Egon Busch schildert am Ende des Buches, wie der Wandel des Schulsystems auch das Dorf erreichte. 1968 kam dann das endgültige Aus für die «Zwergenschulen».
 

 



Kommentare zu diesem Beitrag:
von Zehnkämpfer (05. Januar 2015, 12:16):
Irgendwie kommt mir dieser Zehnkampf bekannt vor - nur die Bedingungen sind heute doch etwas anders. Ein Sack Flöhe ist leichter zu hüten als die heutigen Kinder einer Jahrgangsstufe, die in ihrer Art so unterschiedlich sind wie die Kinder in der einklassigen Dorfschule. Mir kommt auch das Wort "Inklusion" in den Sinn. Und ist es nicht erstaunlich, dass die damaligen Lehrmethoden so frisch und modern wirken, als seien sie gerade durch unsere regsame Pädagogikindustrie erfunden und unsere paternalistischen Schulbehörden empfohlen worden?

Das Buch scheint mir interessant und humorvoll zu sein. Ich werd es mir bestellen.

Gruß an alle anderen Zehnkämpfer!
 

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