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An der Bushaltestelle

 
01. März 2014
An der Bushaltestelle
Kategorie: Erziehung
 

Nichts ist geregelt, was nicht gerecht geregelt ist

Ich lief meine Runde. So früh am Morgen war es noch ruhig auf der Dorfstraße. An der Bushaltestelle wartete eine Gruppe von Kindern auf den Schulbus. Schon von weitem war zu erkennen, daß dort die Zone des Morgenfriedens endete. Ein Gedränge und Geschubse war im Gange. Im Vorüberlaufen fiel mir die größte und kräftigste Gestalt der Gruppe auf: das gedunsene Gesicht des Jungen war kalkweiß vor Wut, seine Augen blitzten aus engen Lidspalten. Wie ein fleischgewordener Roboter bewegte er sich vorwärts, mit Armen wie Dreschflegel mal links, mal rechts ausholend, wobei er zwei kleinen Jungs folgte, die ihm auf flinken Beinen wendig auswichen. Da stolperte einer der beiden, und ich hörte ihn wie ein Ferkel in höchster Not aufquietschen. Ich verlangsamte meinen Schritt und sah, wie die übrigen Kinder, halb betroffen, halb belustigt um die Kämpfenden herumstanden. Keiner rührte sich. Der Fleischberg prügelte auf den Jungen ein, der sich endlich aufrappeln und in Sicherheit bringen konnte. Das Riesenbaby stieß röchelnde Kriegslaute aus. Der Schulbus kam.

Ich lief weiter, aber die Szene ging mir nicht aus dem Kopf. Hätte ich eingreifen sollen? Gegen die schätzungsweise 80 Kilogramm eines rasenden Elfjährigen habe ich mit meinem Fliegengewicht wenig entgegenzusetzen. Zornige Menschen sind zudem mit beschwichtigenden Zurufen nicht zu erreichen. Ein Kämpfender hört und sieht nichts außer den verhaßten Gegner. Auch die Gruppendynamik spielt eine Rolle – möglich, daß sich alle Kinder gegen mich gewendet hätten: Was haben Sie hier anzuschaffen? Es ist doch alles nur Spaß ... Und außerdem, weiß ich denn, welche Vorgeschichte die Prügelei hat? Bin ich denn sicher, daß die beiden kleinen Jungs völlig unschuldig sind an dem Zornesausbruch des dicken Kindes? Für den außenstehenden Betrachter ist die Klärung der Schuldfrage oft genug unmöglich. Täter und Opfer bilden meist eine Schicksalsgemeinschaft, alles ist mit allem verflochten.

Für einen verantwortungsvollen Pädagogen stellt sich hier ein schier unlösbares Problem, denn er muß im Schulalltag sofort handeln. Aber: schnelle Lösungen sind Scheinlösungen! Nichts ist geregelt, was nicht gerecht geregelt ist. Jedem unmittelbaren Ausbruch von Gewalt ist eine längere Phase des sozialen Ungleichgewichts und der Ungerechtigkeit vorausgegangen. Deshalb braucht die echte und wirksame Konfliktlösung vor allem eines: viel Zeit. Der unmittelbar vollzogene Eingriff in Form von Strafe oder Zurechtweisung vermag zwar oberflächlich Ordnung zu schaffen, der Konflikt aber wird verdeckt weiterschwelen und bei der nächsten Gelegenheit in Form von Gewalt erneut ausbrechen. Strafen erzeugen, weil sie nicht gerecht sein können, einen Kreislauf von Gewalt. Wer sich die Schaffung einer gerechten Ordnung zum Ziel setzt, braucht viel, ja sehr viel Geduld.

 
   



Kommentare zu diesem Beitrag:
von Steffi B. (03. März 2014, 09:40):
Gut beobachtet und analysiert. Gefällt mir.
 

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