foto: Jens Weber / pixelio Um Kinder zu einem frühestmöglichen Zeitpunkt zu »bilden«, werden von diversen Interessenverbänden Investitionen gefordert, welche den spezifischen Bildungseinrichtungen zugute kommen sollen. Hierzu könnte die jüngste Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung recht ernüchternd wirken. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Geld, das der Staat in »frühkindliche Bildung« steckt, scheint zum Fenster hinausgeworfen. Berlin zum Beispiel übertrifft in der Höhe der Investitionen alle anderen Bundesländer, wartet jedoch mit einer hohen Zahl von Sitzenbleibern im Grundschulalter auf — Ursache: mangelhafte Fertigkeiten im sprachlichen Bereich. Und dies nicht nur bei Kindern aus fremdsprachigen Familien. Den folgende Abschnitt zitieren wir aus dem aktuellen Rundschreiben des Instituts für Demographie, Allgemeinwohl und Familie e.V. (iDAF): Trotz dieser hohen »Investitionen« scheitern viele Berliner Kinder daran, Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. Jeder sechste Grundschüler konnte 2009 nicht versetzt werden, für die aktuelle Zeugnisrunde erwarten die Bezirke sogar noch mehr Sitzenbleiber. Lehrer beklagen besonders die fehlende Sprachkompetenz von Kindern. Nicht nur türkische und arabische, auch deutsch-stämmige Kinder artikulierten sich in einer »unglaublichen Kiezsprache«. Diese Kinder haben fast alle mehrere Jahre lang eine Kindertagesstätte besucht. Dort haben sie sich gegenseitig die Kiezsprache, nicht aber die deutsche (Hoch)Sprache beigebracht. Um diese zu erlernen bräuchten sie Erwachsene, die ihnen vorlesen und viel mit ihnen sprechen. Erzieherinnen sind mit dieser Aufgabe häufig überfordert: Zu groß und zu heterogen sind die Gruppen, zu wenig Zeit bleibt für das einzelne Kind. [Hervorhebung durch den Stolz Verlag] Das komplette Rundschreiben des iDAF -->
Als wir diesen Abschnitt lasen — insbesondere die hier eigens durch Fettdruck markierten Sätze — erinnerten wir uns spontan an das hochaktuelle und lesenswerte Buch des Autorengespanns Gordon Neufeld und Gabor Matè: »Unsere Kinder brauchen uns«. Die Autoren warnen seit Jahren unermüdlich vor dem Phänomen der Gleichaltrigenorientierung, wie sie durch die in Schulen gebildeten Peergroups entstünden. Es fehle das Vorbild der Erwachsenen, welche Werte, Tradition, Fertigkeiten und andere wichtige Verhaltenscodes vorleben könnten. Die Desorientierung der Jugendlichen führe zwangsläufig zu einer eigenen Jugendkultur der Orientierung aneinander. Es muß nicht eigens betont werden, welcher Art die »Werte« sind, die sich hier bilden, und was dies langfristig für die westliche Kultur bedeutet. Die Gesellschaft hegt die Erwartung, daß Kinder wie selbstverständlich unsere Tradition in Sprache, Kultur und Moral übernehmen, obwohl man sie in Masseninstitutionen weitgehend sich selbst überläßt. Währenddessen sind die einstmals mit Unterricht und Erziehung betrauten Lehrkräfte gezwungen, sich hauptsächlich mit bürokratischem Formalkram wie Messen und Wiegen, Sammeln von Zahlenmaterial und Erstellen von Statistiken zu befassen. Wer wünscht, daß sein Kind ein Instrument spielen lernt, muß ihm zeigen, wie man das macht und ihm die Möglichkeit geben, das Spielen fleißig zu üben. Gerade das aber tun wir nicht: wir werfen der jungen Generation eine ganze Litanei verbaler Anweisungen an den Kopf und lassen sie dann mit sich selbst und ihresgleichen allein in der Hoffnung, sie würden sich das alles nun selbstverantwortlich beibringen. Glauben wir wirklich, Kinder seien dazu in der Lage? Dann allerdings wäre Erziehung überflüssig, denn wir hätten es mit erwachsenen, ausgereiften Charakteren zu tun. Wir erwarten von unseren Kindern die Einsicht und Reife, die sie dazu befähigt, selbstverantwortlich Reife und Einsicht zu entwickeln. Sie sollen sich quasi selbst unterrichten ganz ohne Erwachsenenvorbild. Solche Paradoxien werden von den hohen Kathedern der akademischen Bildungswissenschaft aus verbreitet und den Lehrern in der Ausbildung als letzte Weisheit vermittelt. Wenn das kein grober Unfug ist — was ist es dann? Gerade im Bereich der Sprache ist der seit Jahrzehnten voranschreitende Verfall der kindlichen Fähigkeiten besonders gut zu beobachten. Auch die Verhaltensweisen unter Jugendlichen haben eine drastische Veränderung erfahren; die neu entstandenen Normen der Jugendkultur richten sich nur bedingt nach den uns vertrauten Moralgesetzen. Eine andere Jugend wächst heran. Hier ist nun nicht der Ort, Zukunftsvisionen zu entwerfen oder Wertediskussionen zu führen. Jedoch soll eines nicht ungesagt bleiben: In unserer Eigenschaft als Eltern und Lehrer müssen wir uns fragen, ob der Weg, den die Gesellschaft mit der Vorantreibung der Frühbeschulung eingeschlagen hat, wirklich der richtige ist. Wir sollten uns nicht von den eventuell kurzfristigen Vorteilen blenden lassen, als da vor allem die Schaffung von Arbeitsplätzen in den neu entstehenden Institutionen zu nennen wäre. Wir sollten auch nicht das Augenmerk auf den zweifellos neu entstehenden, lukrativen Markt richten, der seinerseits wiederum Arbeit und Umsatz verspricht (Hersteller von Möbeln, Raumausstattung, Verköstigung, didaktischem Material, Spielzeug und anderes mehr). Kurzfristige Vorteile sind nicht selten langfristig gesehen ein Nachteil für die Gesellschaft. Irrwege sind in der Geschichte immer dann beschritten worden, wenn sie verlockend erschienen und Mehrwert versprachen. Bezüglich der Frühbeschulung sollten wir die warnenden Stimmen ernstnehmen, besonders jene, die auf praktischen Erfahrungen beruhen (siehe Gordon Neufeld und Gabor Matè). Glaubt unsere Gesellschaft wirklich, die Haltbarkeit der Brücke, die uns Menschen in Frieden und Freiheit verbindet, und die wir Zivilisation nennen, sei allein mit Geldscheinen aus Papier zu gewährleisten? Das fragt sich besorgt Ihre Karin Pfeiffer |